Das britische Unterhaus sucht einen Weg aus der Brexit-Sackgasse. Dass es einen Konsens findet, ist alles andere als sicher.
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London/Wien. Nur zwei Tage vor dem Auslaufen der Brexit-Frist wollen die Abgeordneten in Westminster Alternativen für das Austrittsabkommen von Premierministerin Theresa May suchen. Gegen den Willen der Regierung wollen sie am Mittwoch darüber abstimmen, für welche Idee es eine Mehrheit gibt. Als mögliche Optionen gelten eine engere Anbindung an die EU, ein zweites Referendum oder die Rücknahme der Austrittserklärung.
Muss May eine mögliche Mehrheit im Parlament umsetzen?
Nein. Die "indicative votes" sind rechtlich nicht bindend, May hat bereits angekündigt, sie ignorieren zu wollen. Gibt es aber für einen der Vorschläge eine Mehrheit, dann könnten die Abgeordneten per Gesetzgebung rechtlich-verbindliche Entscheidungen herbeiführen.
Welche Ideen haben die besten Chancen?
Darüber wird derzeit wild spekuliert. Der in der Nacht auf Dienstag zurückgetretene Gesundheitsminister Steve Brine ist zuversichtlich, dass es zu einem zweiten Referendum kommen kann. Die Opposition wird wohl dafür stimmen, auch einige Tories könnten sich anschließen. Für eine Mehrheit wird das aber wahrscheinlich nicht ausreichen. Am aussichtsreichsten ist die Option eines dauerhaften Verbleibs in der Zollunion der EU. Damit wäre auch der umstrittene "Backstop" zur Vermeidung einer Grenze in Irland nicht mehr nötig: Werden keine Zölle eingehoben, braucht es auch keine Grenzkontrollen.
Wie könnte ein Verbleib in der Zollunion überhaupt garantiert werden? Ein Regierungswechsel ist in London jederzeit möglich.
Bleibt das Vereinigte Königreich in der Zollunion der EU, dann müsste das Austrittsabkommen diesen Punkt rechtlich verbindlich festhalten. Verhandelt werden müssten dann nur noch jene Bereiche, aus denen Großbritannien ausscheiden will. Die Verhandlungen über die künftigen Beziehungen mit der EU können erst nach dem Brexit starten.
In Brüssel ist man allerdings skeptisch, inwiefern man möglichen Zusicherungen des britischen Parlaments trauen kann. Immerhin haben die Abgeordneten bereits über dieselben Fragen unterschiedlich abgestimmt. "Das gilt vor allem, weil möglicherweise zum Zeitpunkt der Annahme des Deals andere Abgeordnete im Unterhaus sitzen als jene, die jetzt die Zusicherung geben", sagt ein Experte der EU-Kommission zur "Wiener Zeitung".
Und was ist bei einer Mehrheit für ein zweites Referendum?
In diesem Fall müsste der Brexit erneut verschoben werden, das Vereinigte Königreich würde an den Europawahlen Ende Mai teilnehmen. Umfragen weisen darauf hin, dass sich diesmal eine Mehrheit der Briten für den Verbleib in der EU entscheiden würden. Käme es dazu, dann wäre die Angelegenheit vom Tisch - und das Ganze würde als böser Albtraum in die Geschichte Europas eingehen. Allerdings warnen Gegner einer Volksbefragung, dass sie die britische Gesellschaft noch weiter spalten würde. Dem Argument, ein zweites Referendum sei undemokratisch, weil es ja bereits eine Entscheidung gegeben hat, entgegnen Befürworter, dass vielen Wählern erst jetzt klar sei, was der EU-Austritt wirklich bedeute - und sie sich mit diesem Wissen anders entscheiden würden.
Ist Mays Deal also endgültig vom Tisch?
Nein. Eigentlich wollte sie ihn den Abgeordneten diese Woche ein drittes Mal vorlegen. Doch May will erst wieder über ihr Austrittsabkommen abstimmen, wenn eine Mehrheit dafür in Sicht ist. Um ihren Deal durchs Parlament zu bekommen, braucht sie nicht nur die Stimmen der nordirischen DUP, die eine Zustimmung bisher ablehnen. Weil etliche ihrer eigenen Tories gegen das Austrittsabkommen der Premierministerin votieren werden, ist May auch auf die Stimmen einiger Labour-Rebellen angewiesen. Die meisten davon dürfte sie aber mit ihrer Rede an die Nation vergangene Woche vergrault haben. "Viele Abgeordnete haben Mays Kritik an Westminster als Angriff auf die liberale Demokratie verstanden", sagt der Politikwissenschafter aus Cambridge Luke Cooper. Sie würden nun nicht mehr für Mays Deal stimmen.
Was ist mit Mays konservativen Tories?
Die konservativen Brexit-Hardliner signalisieren nun ein gewisses Entgegenkommen. So hat Jacob Rees-Mogg am Dienstag angedeutet, beim nächsten Mal für Mays Deal zu stimmen. Laut Schätzungen gilt das für die Hälfte der rund 80 Tory-Brexiteers. Für sie ist Mays Austrittsabkommen das geringere Übel. Die Brexiteers fürchten eine langfristige Verschiebung und einen Rückzug vom Brexit mehr als alles andere. Fast genauso schlimm wäre für den Rechtsaußen-Flügel der Tories eine enge Anbindung an die EU. Leuten wie Rees-Mogg ist sie nicht neoliberal genug. "Die Brexiteers wollen die britische Wirtschaft radikal noch weiter in Richtung freier Marktmechanismen umbauen", sagt Cooper.
Wie viel Zeit bleibt May noch für ihren Deal?
Eigentlich nur noch zwei Tage. Brüssel hat klargemacht: Wenn das britische Unterhaus das Austrittsabkommen nicht bis zum 29. März akzeptiert, dann gibt es am 12. April einen No-Deal-Brexit. Verhindert werden kann er nur, wenn die Briten bis dahin einen neuen Vorschlag auf den Tisch legen, wie es weitergehen soll. Vor allem muss London bis zum 12. April mitteilen, ob es an den Europawahlen teilnehmen will.
Für den Fall, dass die Abgeordneten in London Mays Deal erst kommende Woche annehmen, kann die EU einer Brexit-Verschiebung bis zum 22. Mai aber kaum im Weg stehen. Diese Zeit bräuchte es, um das Austrittsabkommen in nationale Gesetze zu gießen.
Was sagt die EU zu dem ganzen Schlamassel?
In der EU-Kommission wundert man sich, dass bei der Debatte im Unterhaus am Dienstag überhaupt nicht erwähnt wurde, welche Rahmenbedingungen die EU gesetzt hat. "Es entsteht der Eindruck, dass man in London denkt, immer noch alles in der Hand zu haben", sagt der Experte der EU-Kommission.
Er vergleicht den Brexit mit einem Pflaster, das man am besten schnell abzieht. "Denn sonst tut es lange weh."