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Die Tarnkappenpartei

Von Christian Ortner

Gastkommentare
Christian Ortner.

Michael Spindeleggers ÖVP sucht den Eindruck zu erwecken, seit Jahrzehnten in Opposition zu sein. Sehr seriös ist das nicht.


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Vizekanzler Michael Spindelegger (ÖVP), der im September nach Möglichkeit gerne das "Vize" auf seiner Visitenkarte loswerden möchte, kritisiert derzeit vieles, was in dieser Republik nach seiner Meinung schiefläuft. Das "Limit an Steuerbelastungen für unsere Menschen" sei "längst erreicht, ja sogar überschritten" worden; "der Traum von den eigenen vier Wänden" sei "für viele in weite Ferne gerückt", und ganz allgemein fordert er eine "Entfesselung" der österreichischen Wirtschaft, was aus logischen Gründen impliziert, dass sie bis auf weiteres gefesselt ist.

Nun liegt Herr Spindelegger mit dieser Diagnose ja grundsätzlich nicht falsch. Er weist mit diesem Sound, der stark nach Opposition klingt, freilich auf ein höchst bemerkenswertes politisches Naturschauspiel hin. Denn offenbar hat in Österreich in den vergangenen 27 Jahren neben der SPÖ (und für ein paar Jahre der FPÖ) eine unsichtbare Partei ohne Namen mitregiert, die in dieser Zeit meist so unbedeutende Ressorts wie das Finanz- oder das Wirtschaftsministerium geleitet hat. Eine Tarnkappen-Partei sozusagen, die unsichtbar für die Öffentlichkeit mitregiert hat - und deshalb mitverantwortlich für die von Spindelegger angeprangerten Missstände ist.

Dass es sich bei dieser Partei um die ÖVP handeln könnte, wie naive Beobachter vermuten würden, kann mit hoher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden. Denn hätte die ÖVP Mitverantwortung getragen, müsste ihr Chef ja wohl nicht heute über unzumutbar hohe Steuern, unleistbares Wohnen und eine gefesselte Wirtschaft Klage führen.

Der von der ÖVP dagegen regelmäßig vorgebrachte Einwand, meist nur Juniorpartner in einer Koalition gewesen zu sein, wiegt wenig. Denn die österreichische Realverfassung bringt es mit sich, dass in der großen Koalition beide Partner zumindest annähernd gleich viel Macht haben. Damit tragen sie aber auch beide eine annähernd gleich große Verantwortung; für Misslungenes genauso wie für Gelungenes.

Sich nonchalant der Verantwortung für die weniger gut gelungenen Aspekte des vergangenen Vierteljahrhunderts schwarzer Teilhabe an der Macht zu entledigen, erhöht Michael Spindeleggers Glaubwürdigkeit nicht gerade sehr. Die Frage, warum die ÖVP ausgerechnet in einem allfälligen 28., 29., oder 30. Jahr des ununterbrochenen Mitregierens für niedrigere Steuern, billigere Wohnungen oder eine entfesselte Wirtschaft sorgen soll, ist durchaus zulässig.

Der Vizekanzler hat sich den Ruf erarbeitet, ein für österreichische Verhältnisse eher geradliniger Politiker ohne all zu hohe Schmähführungsneigung zu sein. Zu diesem Image würde es vorzüglich passen, dem Wähler zu erläutern, a) welche Fehler die ÖVP etwa in der Steuerpolitik in der Vergangenheit gemacht hat, b) warum diese Fehler geschehen sind und c) warum sich daran in Zukunft etwas ändern wird.

Gewiss: Derartiges wäre eine echte Innovation für die heimische Innenpolitik. Doch einer Partei, die derart lange mitregiert hat, stünde eine solche Aufarbeitung der Geschichte ganz gut zu Gesicht. Sonst wird das mit dem Verschwinden des "Vize" auf Spindeleggers Visitenkarte noch schwierig werden, als es eh schon ist.

ortner@wienerzeitung.at