Die Arbeitsbedingungen in der Textilindustrie sind unsäglich - ein Boykott ist trotzdem keine Lösung.
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Als vor einem Jahr das Rana-Plaza-Gebäude in Dhaka (Bangladesch) samt fünf Textilfabriken einstürzte, waren wir gerade mit der Materialsichtung für unseren Film "The Hands That Sew Your Shirt" fertig, der ein Projekt zugunsten der Textilarbeiterinnen in Bangladesch zeigt. Nachdem durch den Einsturz mehr als 1100 Menschen getötet und fast 2500 verletzt wurden, gewann das Thema rasch an Brisanz. Plötzlich wurden die wenigen internationalen Fortschritte zur Kontrolle der Arbeitsstandards diskutiert - wie das Brandschutzabkommen, mit dem sich mehr als 150 Textilunternehmen weltweit verpflichten, Fabrikgebäude regelmäßig inspizieren zu lassen und die Arbeitsbedingungen zu verbessern.
Gemeinsam mit der Kampagne "Clean Clothes" beklagten wir monatelang die Untätigkeit der Bekleidungsindustrie, den Opfern angemessene Entschädigungen zu zahlen. Seit Februar können Unternehmen nun in den Entschädigungsfonds, der unter Aufsicht der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) ins Leben gerufen wurde, einzahlen. Bisher haben 15 der 29 Unternehmen, denen nachgewiesen werden konnte, dass sie in einer der fünf Rana-Plaza-Fabriken Kleidung fertigen ließen, in den Fonds eingezahlt. Fast ein Jahr nach der Katastrophe fehlen aber noch immer 25 Millionen US-Dollar für eine angemessene Entschädigung aller Opfer der Katastrophe.
40 Millionen US-Dollar wären nötig, um alle Betroffenen für ihre Einkommensverluste und medizinischen Kosten finanziell zu entschädigen, hat die ILO errechnet. Die erwähnten 29 Bekleidungsmarken erzielen laut "Clean Clothes" Gewinne jenseits der 22 Milliarden Dollar pro Jahr. Nun sind sie aufgefordert, mit weniger als 0,2 Prozent ihrer Jahresgewinne das Leid jener Menschen zu lindern, auf deren Arbeit auch ihr enormer wirtschaftlicher Erfolg beruht.
Hat sich unterdessen für die Arbeiterinnen in Bangladesch etwas Substanzielles verändert? Die Gewerkschafterin Kalpona Akhter meinte dazu kürzlich im "Tagesspiegel": "Noch immer werden sie mies bezahlt, unter Druck gesetzt, ausgebeutet und sexuell belästigt. Aber die meisten Frauen haben keine andere Wahl, als in einer Textilfabrik zu arbeiten."
Bei der Vorführung der Dokumentation "The Hands That Sew Your Shirt" lautet eine der Fragen stets: Was können wir tun? Die Antwort darauf lautet: Nicht boykottieren. Denn die Gewerkschaften in den Herstellerländern setzen auf die verändernde Macht von uns Konsumentinnen und Konsumenten. Wichtiger ist, ein Bewusstsein für unsere Verantwortung für faire Arbeitsbedingungen zu schaffen, die Filialleitungen der Modegeschäfte hartnäckig nach der Herkunft der Bekleidung zu fragen und Kampagnen für faire Löhne zu unterstützen - also Druck auf Konzerne und Politik auszuüben.
Sollten Sie demnächst mit EU-Parlamentskandidaten oder deren Helfern in Kontakt kommen, stellen Sie ihnen doch die textile Gretchenfrage: "Wie halten Sie es eigentlich mit den unsäglichen Arbeitsbedingungen der südasiatischen Textilarbeiterinnen, die unsere T-Shirts nähen und vom Kaufpreis nur zwischen 0,5 und 3 Prozent ausbezahlt bekommen? Was werden Sie dagegen tun, falls Sie gewählt werden?"