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Die tiefe Wunde von Odessa

Von Veronika Eschbacher aus Odessa

Politik

Dutzende Menschen verbrannten im Gewerkschaftshaus. Bis heute ist die Stadt geschockt über den Gewaltausbruch, der das Land weiter spaltet.


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Odessa. "In Wirklichkeit ist das ganz und gar nicht gut", sagt Jurij und schüttelt den Kopf. Er steht inmitten von dutzenden Pappschachteln und füllt gerade die Vitrinen in seinem Waffengeschäft in der ukrainischen Hafenstadt Odessa auf, denn die neue Lieferung ist eben gekommen. Aktuell verzeichnet Jurij ein Verkaufsplus von mindestens dreißig Prozent. "Die Menschen wollen sich und ihre Familien beschützen können", sagt er.

Es sei nicht so, dass nun viel mehr Menschen auf der Straße bewaffnet herumlaufen würden. Nein, die Leute hätten ihre Waffen eher im Auto liegen oder griffbereit in ihrer Wohnung. Aber er bemerke, dass viele heute eher auf größere Waffen als Pistolen zurückgreifen würden. Eine Kalaschnikow, die ab gut 1000 Dollar zu erhalten ist, gehe heute weit öfter über den Ladentisch. Aber auch Scharfschützengewehre. Wie viele Kalaschnikows er wöchentlich verkauft, will Jurij nicht verraten. Genauso wenig könne er sagen, welcher politischen Gesinnung seine Kunden sind. "Sie alle haben einen ukrainischen Pass", betont er. Und freilich die erforderlichen Gutachten und Lizenzen. Mehr wisse er nicht von ihnen.

Vor nicht ganz zwei Wochen erfassten auch Odessa Zusammenstöße zwischen Befürwortern und Gegnern der neuen Führung in Kiew, zwischen Pro-Ukrainern und Pro-Russland-Gesinnten. An diesem Tag hatten sich die Fußballfans der Klubs von Odessa und Charkiw zu einem gemeinsamen Marsch zum Stadion verabredet. Die Fußball-Ultras im Land zählen zu den Befürwortern des Maidan. Als sie gemeinsam durch die Stadt zogen, trafen sie auf prorussische Demonstranten, die in der Minderzahl waren, aber über sie herfielen. Vier Fußballfans starben. Im Verlauf des Zusammenstoßes flohen die pro-russischen Aktivisten in das Gewerkschaftshaus und verbarrikadierten sich dort.

Was danach am 2. Mai passierte, darüber gehen die Meinungen auseinander. Es flogen Molotowcocktails, das Haus begann zu brennen - und in ihm kamen mindestens 46 Menschen ums Leben. Sie verbrannten, erstickten - oder stürzten aus den Fenstern in den Tod. Die Untersuchungen durch die örtliche Polizei, die heute beschuldigt wird, Provokationen der prorusisschen Demonstranten nicht hintangehalten zu haben, laufen weiterhin.

Beleg für Grausamkeit

Da vor allem Russland-Sympathisanten umkamen, tragen für viele klar die Pro-Ukrainer, die "Faschisten", die Hauptschuld. Die Tragödie hat in der Ukraine mittlerweile die gleiche Bedeutung wie der Tod der 70 Demonstranten am Maidan im Februar. Das "Massaker von Odessa" dient nun im ganzen Land als Beleg, wenn es darum geht, die Grausamkeit ukrainischer Nationalisten aufzuzeigen. Es gibt aber auch Berichte, dass Pro-Ukrainer sehr wohl verzweifelt versucht hätten, die Menschen zu befreien, oder aber, dass auch Pro-Russen Molotowcocktails geworfen hätten, erzählen Einheimische. So vertieft das Unglück abermals die Gräben in dem ohnehin gespaltenen Land.

Das halb ausgebrannte Haus wurde bereits freigegeben, täglich strömen hunderte trauernde Bewohner der Stadt und Schaulustige hin, legen Blumen und Kerzen aus und laufen die ausgebrannten Stockwerke auf und ab, in denen zentimeterhoch Asche liegt, wie auch halb verbrannte Schuhe und Kleidung. Manche nehmen Souvenirs mit, halb verbrannte Dinge, oder gar ganze, noch unbeschädigte Kästen. Auf die rußschwarzen Wände wurden mit weißer Kreide Parolen wie "Nein dem Faschismus" geschrieben. Die meisten Fenster sind zerschlagen, teilweise auch die Türen zwischen den Zimmern, aus denen die Menschen versuchten, vor den Flammen zu fliehen.

"Dieser Tag hat vieles verändert", sagt Jurij, der in einem Messergeschäft arbeitet. Es hätten zwar auch vorher kleinere Demonstrationen gegeben, aber nie derart gewaltsame Zusammenstöße. Und auch wenn es jetzt wieder ruhiger sei, so merke man doch, dass die Menschen sich zurückhalten und nach der Arbeit gleich nach Hause fahren.

"Die Menschen hier lieben Frieden über alles", meint Walerij, ein Sicherheitsexperte. Der zweite Mai sei eine gezielte Provokation gewesen, ist er überzeugt. Denn: "Hier tragen wir unsere Differenzen mit Worten aus - bei Schaschlik am Strand und einem Glas Cognac. Aber sicher nicht mit Waffen." Für ihn als alteingesessenem Bewohner von Odessa sei es schmerzhaft zu beobachten, wie gezielt die Ukrainer in zwei Lager gespalten würden. Den Westen und Südosten der Ukraine vergleicht er mit einem alten Ehepaar. Und dieses täte gut daran, den Nachbarn links und rechts nicht mehr zu glauben als einander - und ohne Einflüsterer wieder zueinanderzufinden. Ob die Versöhnung klappt, könne er nicht voraussagen. "Ich kann nur darauf hoffen."