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Die Tiere, die es beinahe gibt

Von Edwin Baumgartner

Wissen
Der Schrecken der Seeleute von Anno dazumal ist der Traum des Kryptozoologen von heute: Die Begegnung mit einem Riesentintenfisch, wie sie sich Pierre Denys de Montfort vorstellte. Foto: wikipedia

Der Zoologe Bernard Heuvelmans entwickelte die Kryptozoologie. | 1500 Tierarten in 200 Jahren entdeckt. | Wien. Natürlich wäre es am schönsten, mit Nessie um die Wette zu schwimmen (nur nicht im Loch Ness, wo das Wasser für den Menschen empfindlich kalt ist), oder dem Yeti die Hand oder Pfote oder Tatze, je nachdem halt, zu schütteln und ihn, sollte er der Sprache mächtig sein, nach seiner möglicherweise traumatischen Begegnung mit Reinhold Messner zu fragen. Doch die Aufmerksamkeit Kryptozoologie richtet sich nicht allein auf die schottische Seenlandschaft und das Himalaya-Gebirge. Ihr geht es um jedes Tier, das es eventuell geben


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könnte.

Mythen und Legenden sind mit seltsamen Tieren bevölkert: mit Lindwürmern und Drachen, mit Riesenvögeln wie dem Rokh der arabischen Sagen, und geht es nach den Seeleuten früherer Zeiten, ist das Meer voller Ungeheuer, die selbst Schiffen gefährlich werden. Auch Weltenbummler und Abenteurer jüngerer Zeit bis hinein in unsere Gegenwart wollen einiges gesehen haben, wofür es in seriösen Lexika kein Stichwort gibt. Alles nur Seemannsgarn, Jägerlatein und Hirngespinst?

Die herkömmliche Zoologie befasst sich mit solchen Themen nicht. Zu ihrem Nachteil, meinte der belgisch-französische Zoologe Bernard Heuvelmans (1916-2001), immerhin könnte an den Erzählungen ja was Wahres dran sein. Denn nur, weil ein Tier noch nicht erfasst ist, heißt es noch lange nicht, dass es nicht existiert. 1939 hatte der passionierte Jazzmusiker mit einer Arbeit über die Zahnstruktur des südafrikanischen Erdferkels an der freien Universität in Brüssel promoviert. Doch Heuvelmans interessierte sich immer weniger für Erdferkel und immer mehr für jene Tiere, die als Modelle für die Fabelwesen gedient haben könnten. Diese Suche nach möglicherweise existenten Lebewesen nannte Heuvelmans "Kryptozoologie" - das griechische Wort "kryptos" bedeutet "verborgen", die Kryptozoologie ist also die Lehre von den verborgenen Tieren.

Wissenschaftliche Systematik unentdeckter Tierarten

Heuvelmans Vorgangsweise stand fest auf den Beinen wissenschaftlicher Systematik - nur dass die in ihr erfassten Tiere auf Annahmen beruhen, die erst noch des Nachweises bedürfen.

Die Geschichte stimmt den Kryptozoologen vorerst einmal über Umwegen zu. Bis tief ins 19. Jahrhundert folgte die orthodoxe Zoologie dem Postulat des schwedischen Naturforschers Carl von Linné (1707-1787), der in "Systema naturae" (1735) schrieb: "Es gibt so viele Spezies als ursprünglich erschaffen wurden." Man ging davon aus, alle Tierarten erfasst zu haben. In den letzten 200 Jahren freilich wurden mehr als 1500 weitere Tierarten entdeckt. Freilich nicht solche, nach denen die Kryptozoologie aktiv gesucht hätte - zumal es sie ja erst seit den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts offiziell gibt. Doch kann die Kryptozoologie durchaus auf die Möglichkeit neuer Entdeckungen verweisen.

Zumal unter diesen Entdeckungen nicht nur kleine Lebewesen waren, die man leicht übersehen haben konnte. Der Varanus bitatawa etwa, der auf den Bäumen der philippinischen Sierra madre lebt, wird immerhin bis zu zwei Meter lang. Entdeckt wurde er 2010. Einen landessprachlichen Namen hat er bisher noch nicht, denn "Baumwaran" ist bereits an den Varanus macraei vergeben - eine Entdeckung aus dem Jahr 2001. Ein Winzling ist auch der fünfeinhalb Meter lange Riesenmaulhai nicht, der 1976 entdeckt wurde.

Auch Riesenkalmare von bis zu acht Metern Länge sind mittlerweile nachgewiesen und lassen das Seemannsgarn gar nicht mehr so unwahrscheinlich anmuten: Die Segelschiffe, die in früheren Zeiten die Meere befuhren, waren oft nur um die 25 Meter lang. Ein Kalmar, der etwa auf ein Drittel der Schiffslänge kam, musste einem Seemann als bedrohliches Untier erscheinen. Und der Kryptozoologe kann obendrein aus einem weiteren Grund frohlocken: Solange wir über die Tiefen der Ozeane weniger wissen als über den Mond, mag sich dort noch so manches verbergen, was Legenden und Seemannserzählungen zu abscheulichen Monstrositäten transformiert haben.

Dass sich hinter Volkserzählungen konkrete Tiere verbergen, beweist ein Fall aus dem Jahr 1912: Fischer der Sunda-Inseln berichteten seit Jahrhunderten von einem menschenfressenden Drachen. Man hielt es für einen Mythos. Bis man jenes Tier entdeckte, das heute als Komodowaran bekannt ist. Das bis zu drei Meter lange Tier bevorzugt Hirsche und Schweine als Beutetiere und attackiert auch den Menschen, wenn es sich bedroht fühlt.

Gesucht: Der Fleckenlöwe und die Riesenanakonda

Doch die Kryptozoologie lebt nicht nur von den spektakulären Entdeckungen der Vergangenheit. Heute sucht sie etwa nach der Riesenanakonda, die sich in der Gegend von Brasilien herumtreiben soll. Während ihre nachgewiesene Verwandtschaft um die vier Meter misst, soll Sucuriju gigante an die 20 Meter lang sein. Wenn man nicht gar Berichten glauben will, die von mehr als 40 Metern sprechen. Vielleicht entdeckt man ja auch die Marozi, wie die Kenianer ihre legendenumwobenen gefleckten Löwen nennen. Oder man findet im Tschad eine Großkatzenart, die, glaubt man Augenzeugenberichten, eigentlich nur ein Säbelzahntiger sein kann. Möglich auch, dass man im Dschungel des Kongo gar auf Mokele-Mbembe stößt, den Riesenwaran, der vielleicht sogar ein Dinosaurier ist. Als kompletten Unfug können das nur jene abtun, die auch die Existenz des Quastenflossers leugnen. Immerhin ist der eine Kleinigkeit von ein paar Millionen Jahren älter als die Sauropoden, und was außerdem für Mokele-Mbembe spricht: Der Dschungel ist nahezu so unerforscht wie das Meer.

Schlimm ist nur, dass jeder Erfolg der Kryptozoologie auch ein Verlust ist. Denn jede entdeckte Art geht ganz zwangsläufig an die Zoologie verloren. Vielleicht landet dereinst ja selbst Nessie noch dort.