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Die Tischsitten der Wale

Von Roland Knauer

Wissen
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Mit kräftigen Schlägen der Schwanzfluke auf die Wasseroberfläche versetzt der Buckelwal die Sandaale in Panik und treibt sie so zusammen.
© Jennifer Allen/Whale Center of New England/Science

Wie die Methoden von Artgenossen übernommen und zu Traditionen werden.


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Berlin. Wenn im Fernen Osten das Essen mit Stäbchen zum Mund geführt wird, während in vielen anderen Teilen der Welt Messer und Gabel denselben Zweck erfüllen, ist das eine Tradition. Mit einiger Mühe lernen Kinder diese Technik von den Eltern und Neuankömmlinge imitieren das Verhalten der Alteingesessenen. "Typisch Mensch" sind solche Traditionen aber nicht, auch Buckelwale kennen zum Beispiel entsprechende Tischmanieren, die sie an ihre Artgenossen weitergeben. Zumindest gilt das, wenn es um das Verspeisen der schmackhaften Sandaale geht, die vor der Atlantikküste im Nordosten der USA laichen, berichten Jenny Allen von der Universität im schottischen St. Andrews und ihre Kollegen in der Zeitschrift "Science" (Band 340, Seite 485).

Diese im Durchschnitt 13 Meter langen Wale filtern Krebse und kleine Fische mit Barten in ihrem großen Maul aus dem Wasser. Um sich die Mägen vollzuschlagen, brauchen die riesigen Meeressäuger möglichst große Schwärme ihrer kleinen Beute. Überall auf der Welt treiben Buckelwale daher zum Beispiel Heringe mit einem Trick zusammen: Zunächst tauchen sie unter einen lockeren Schwarm der Fische, kreisen dann unter ihrer Beute und stoßen dabei kräftig Luftblasen aus. Die erschrockenen Heringe sind wie in einem Käfig in den silbrig glänzenden Blasen eingeschlossen und drängen sich eng zusammen. Der Buckelwal muss jetzt nur noch mit weit geöffnetem Maul mitten in seinem Blasenvorhang auftauchen, um reichlich Beute zu schlucken.

Im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts dezimierten jedoch die Fangflotten die Fische vor der Nordostküste der USA so stark, dass die Heringsbestände einbrachen. Die hungernden Buckelwale wichen daher auf Sandaale aus, die sich in dieser Weltgegend an einer Sandbank zum Laichen treffen. Doch die Jagd mit dem Blasenvorhang allein treibt nicht genug dieser allenfalls vierzig Zentimeter langen, schmalen Fische zusammen, um dreißig Tonnen Buckelwal zu ernähren. 1980 aber verbesserte ein Buckelwal die althergebrachte Fangmethode mit einer Ouvertüre enorm: Vor der eigentlichen Jagd donnerte das Tier ein bis vier Mal seine mächtige Schwanzfluke mit der flachen Seite schwungvoll auf die Oberfläche des Atlantiks. Wenn die Schockwellen dieser Schläge durch das Wasser jagen, schrecken die Sandaale offensichtlich so stark auf, dass sie eng zusammenrücken, um in der Menge Schutz zu finden. In diesem Moment setzen die Buckelwale ihren bei Heringen gut erprobten Blasenvorhang ein und treiben die panischen Sandaale noch enger zusammen. Maul aufreißen und auftauchen füllt dann in bewährter Manier den Walbauch mit vielen Sandaalen.

Lernfähige Einzelgänger

Seit 1980 hat sich der Schwanzflukentrick bei den Buckelwalen vor der US-Nordostküste zunehmend durchgesetzt. 2007 beherrschten ihn bereits 40 Prozent aller Wale. Um herauszukriegen, ob bei der Verbreitung dieser Technik wirklich Traditionen eine Rolle spielten, analysierten die Forscher 73.790 Beobachtungen von Walsafari-Schiffen, bei denen im Laufe von 27 Jahren 653 verschiedene Buckelwale identifiziert wurden. Offensichtlich übernahmen die häufig als Einzelgänger lebenden Wale die neuen Tischmanieren immer dann, wenn sie sich im gleichen Gebiet aufhielten wie ein befreundeter oder verwandter Artgenosse, der die Technik bereits beherrschte.

Genauso bilden sich auch beim Menschen oder bei Schimpansen Traditionen. Wert auf solche bewährte Überlieferungen scheinen aber eben auch Wale zu legen. Neben den Buckelwalen kennen jedenfalls auch noch Delfine bis zum mächtigen Orca Traditionen, die verblüffend dem Essen mit Stäbchen oder Besteck ähneln.