Die "Politische Geographie" stand nicht ohne Grund im Verdacht, totalitär und biologistisch zu sein. Aber seit einiger Zeit ist sie ein neu konzipierter Gegenstand wissenschaftlicher und öffentlicher Diskurse.
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Politische Geographie ist eine relativ junge Teildisziplin der Geographie, die durchaus mit Anlaufschwierigkeiten zu kämpfen hatte. Sie entstand am Ende des 19. Jahrhunderts als Verschnitt von Staatswissenschaften und Erdkunde und entwickelte Anfang des 20. Jahrhunderts die (verspäteten) theoretischen Grundlagen zur Kolonisation und imperialistischen Politik.
In den 1920er und 1930er Jahren erreichte die Politische Geographie einen zweiten, jedoch noch unrühmlicheren Höhepunkt. Der aufkommende Nationalsozialismus suchte seine eigene Expansionspolitik zu legitimieren, und machte Anleihen in der Politischen Geographie. Sie bildete im wahrsten Sinne des Wortes einen fruchtbaren Boden: Die Wechselwirkungen zwischen Erde, Natur und Mensch wurden dabei als zentrale Aufgabe der Politischen Geographie gesehen. Die Evolutionstheorie von Charles Darwin bot dafür eine wichtige Basis.
Für die Beschreibung der Entwicklung von Staaten wurden biologistische Begrifflichkeiten herangezogen, der Staat mit einem biologischen Organismus verglichen, Wachstum und Schrumpfen von Staaten mit dem "Gesetz der wachsenden Räume" erklärt.
"Lebensraum"-Ideologie
Diese Ideen, die von Friedrich Ratzel stammten und später von Karl Haushofer weiterentwickelt wurden, galten als wichtige Impulsgeber für die "Lebensraum"-Ideologie des Nationalsozialismus. "Lebensraum" bedeutete Gebietsanspruch und diente als Rechtfertigungsargument für territoriale Expansion. Der 1926 von Hans Grimm veröffentlichte Roman "Volk ohne Raum" machte diese Ideologie massentauglich. Auch die Kartographie war Wegbegleiterin dieser Entwicklung, indem die Landkarten Weltanschauungen und Raumansprüche zu Propagandazwecken visualisierten.
Aufgrund dieser spezifischen Disziplingeschichte war es nur zu verständlich, dass die Politische Geographie nach dem Zweiten Weltkrieg im deutschsprachigen Raum und im wissenschaftlichen Kontext vorerst nicht existent war und erst langsam wieder auf die Beine kam. Auf der einen Seite war wissenschaftshistorische Aufarbeitung angesagt, die eher zaghaft erfolgte, auf der anderen Seite befasste man sich mit unverfänglichen und deskriptiven Inhalten wie beispielsweise der Wahlgeographie oder der Vermittlung des Staatsorganisationsrechts.
Erst Ende der 1980er Jahre nahm die Politische Geographie wieder richtig Fahrt auf; nicht zuletzt durch das Ende des Kalten Krieges war Ideensuche angesagt. Zahlreiche Einflüsse aus dem angloamerikanischen Raum bereicherten den Diskurs zusätzlich: dem Menschen als handelndem Akteur wurde die zentrale Verantwortung für Fragen der Ungleichverteilung, Ressourcenbewertung, geopolitischer Interaktionen und Umweltfragen zugesprochen.
Auch Fragen nach "Raumansprüchen" und Kulturkreisen fanden wieder Eingang in die Politische Geographie - allerdings kritisch und vielfach diskurstheoretisch aufbereitet, wie sich auch am Beispiel von Samuel Huntingtons 1996 erschienenem Bestseller "Kampf der Kulturen" gezeigt hat.
Vor diesem neuen inhaltlichen, aber auch wissenschaftstheoretischen Hintergrund, bei zunehmend dringlicher werdenden Fragen nach Ressourcenverteilung und -verbrauch sowie einer Renaissance der Geopolitik und der räumlichen Konfliktforschung, ist Politische Geographie nun wieder ein etablierter Gegenstand sowohl wissenschaftlicher als auch öffentlicher Diskurse.
Territoriale Kontrollen
Politische Konflikte um territoriale Kontrollen und Grenzen bilden dabei ein sehr ausdifferenziertes Forschungsfeld mit hohem Aktualitätsbezug. An dieser Stelle soll aber weder auf aktuelle Fragen zum Kosovo eingegangen noch der laufende Konflikt zwischen Russland und der Ukraine unter dem Aspekt der Politischen Geographie diskutiert werden. Auch auf die Frage, ob es sich dabei um einen neuen Ost-West-Konflikt handelt, soll hier nicht eingegangen werden. Diese Themen sind derzeit sowieso allgegenwärtig, sie geben aber Anlass, die Fragen nach territorialen Kontrollen und Grenzen unter dem Aspekt der Politischen Geographie weiter zu fassen.
Geht es um territoriale Kontrolle, Grenzen und Machtkonstellationen, so sind alle räumlichen Maßstabsebenen gleich angesprochen. International gesehen, wird zum Beispiel im Südchinesischen Meer zwischen zahlreichen Nachbarstaaten heftig um Gebietsansprüche an den Senkaku-, Spratly- oder Paracel-Inseln gestritten. Hierbei geht es unter anderem um vermutete Rohstoffreserven in tiefen Gewässern. Dasselbe wird auch am Meeresgrund unter dem Nordpol gesucht, wo symbolträchtig Flaggen gehisst werden und die untermeerischen Grenzen von den Anrainerstaaten anhand des Festlandsockels unterschiedlich interpretiert und sehr kontrovers in den globalen Diskurs eingespeist werden.
Auf regionaler Ebene spielen beispielsweise sperrige Infrastruktureinrichtungen - ob Staudammbauten in Asien oder geplante Atommülllagerstätten - eine zentrale Rolle in der politisch-geographischen Konfliktforschung. Dahinter stehen meist auch neue soziale und politische Bewegungen, die als "Terrains of Resistance" eine Ausdrucksform des lokalen Widerstands darstellen.
Aber auch politisch-administrative Gebietsreformen, wie eben in der Steiermark vollzogen, bilden den Ausgangspunkt, einerseits raumbezogene Identitätskonzepte zu reflektieren, andererseits Ansprüche und Notwendigkeiten einer politischen Steuerung dem Bürger gegenüber legitimieren zu müssen.
Auf lokaler Ebene geht es dann vielfach um den eingeschränkten Zugang zum Raum und um symbolische Gestaltungsspielräume. Anlassbezogene Aufenthaltsverbote in öffentlichen Räumen, wie etwa im Zuge des Wiener Akademikerballs im jährlichen Rhythmus vollzogen, Videoüberwachung, private Sicherheitsdienste und Gated Communities - all das sind diese raumwirksame Phänomene, die tendenziell die Gesellschaft ausdifferenzieren und den Zusammenhalt nicht unbedingt fördern.
Systemkritik
Geht es dann in weiterer Folge um Aspekte der räumlich-symbolischen Ordnung der Macht, gelangen wir schnell zu Systemkritiken und -transformationen sowie zu Fragen der Staatenbildung, die gerne durch herausragende Gebäude oder Denkmäler repräsentiert werden.
Beispiele dafür gibt es genug, wie etwa die Ereignisse von "9/11" oder die Denkmalstürze von Lenin bis Saddam Hussein. Die jeweiligen Folgen dieser Handlungen sind bekanntermaßen vielgestaltig und somit auch Gegenstand der Politischen Geographie. Ein weiteres zentrales Gebiet des Faches bildet das hy-bride Forschungsfeld politischer Konflikte um ökologische Ressourcen. Die Grundthese besagt, dass Umweltprobleme immer in ihren historischen, politischen und ökonomischen Kontexten gesehen werden müssen. Zentral bei einer Analyse ist dabei die Aufdeckung der Interessen, Machtverhältnisse und ideologischen Diskurse der beteiligten Akteure. Land Grabbing ist hier zu nennen, als ein Beispiel der Landnahme mit zweifelhaften Mitteln vor allem in Entwicklungsländern. Die gegenwärtigen Formen der Landaneignung sind komplex, die Mittel und Zwecke höchst ausdifferenziert.
Es geht hierbei nicht mehr nur um den Anbau von Cash Crops (Exportfrüchten) oder Grundnahrungsmitteln zur Profitmaximierung ausländischer Direktinvestoren, vielmehr spielt die eigene Ernährungs- und Energiesicherung zahlreicher Länder, die als Investoren in Erscheinung treten, eine motivierende Rolle, um hier aktiv zu werden.
Nach der Finanzmarktkrise geht es aber auch um neue Anlagemöglichkeiten für Investoren, wo Hedgefonds und Banken Geld in Landgeschäfte investieren und hohe Renditen versprechen. Ackerland wird so zum Spekulationsobjekt internationaler Investoren. Die Folgen für Grund und Bevölkerung sind in der Regel fatal, sowohl ökologisch als auch gesellschaftlich.
Umweltkatastrophen mit an-thropogenen Einflüssen, deren Folgewirkungen und soziale Ausdrucksformen bilden ebenfalls Forschungsfelder der Politischen Geographie. Dazu zählt der Handel mit Emissionszertifikaten ebenso wie neue transnationale Handlungsstrategien von Umweltorganisationen wie Greenpeace oder Friends of the Earth. Denken wir rückblickend etwa an den Diskurs um den Brent- Spar-Konflikt und seine unmittelbaren Auswirkungen bis hin zum individuellen Tankverhalten in Norddeutschland.
Multiple Identitäten
Zusammenfassend gesagt, geht es in der Politischen Geographie der Gegenwart um die Thematisierung der Rolle raumbezogener Handlungen, Diskurse und Semantiken im Verhältnis von "Raum und Macht", und um die Konstruktion räumlicher Zusammenhänge im Kontext politischer Konflikte.
Die Akteursrollen sind dabei heute global betrachtet sehr flexibel, fluktuierend und abhängig von Lebensstilen wie situationsspezifischen Rollen und multiplen Identitäten, die stärker anstelle früherer Klassen- und Schichtenlagen treten. Der Zweck der Politischen Geographie liegt darin, räumliche Konflikte so abzubilden, dass diese von der Öffentlichkeit gut nachvollzogen werden können. Das Kernanliegen könnte so formuliert werden: Die politischen Akteure, Symbole, Handlungsweisen und Sprachen sollen durch Interpretation oder Dekonstruktion dahin gebracht werden, ihre versteckten Absichten offen zu legen.
So ließe sich die Topographie der Macht verstehen. Wenn man dieses Anliegen so formuliert, ist die Politische Geographie heute aktueller denn je.
Martin Heintel, Jahrgang 1967, ist Professor am Institut für Geographie der Universität Wien; zahlreiche Gastprofessuren. Arbeitsschwerpunkte: Stadt- und Regionalentwicklung sowie Politische Geographie.