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Die Torheit der Regierenden

Von Thomas Seifert

Politik

Essay: Eine Woche ist seit dem Brexit-Referendum vergangen: Zeit für ein J’accuse. Welche Lehre zieht man aus dem Desaster?


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Wien. Tage nach dem Brexit-Referendum, in dem die Briten mehrheitlich für den Austritt aus der Europäischen Union votiert haben, regiert allerorten der Katzenjammer. David Cameron hat es nicht allzu eilig damit, Artikel 50 des Lissabon-Vertrages (Absatz 1: "Jeder Mitgliedstaat kann im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften beschließen, aus der Union auszutreten") in Gang zu setzen, Boris Johnson, Posterboy der "Leave"-Kampagne, klingt jetzt, da das Referendum geschlagen ist, plötzlich so, als wäre er Pro-Europäer, und so manchen Briten dämmert jetzt langsam im politischen Hangover, was sie mit ihrem Referendum-Ergebnis angerichtet haben: Die britischen Exporte werden massiv zurückgehen, Nissan und BWM werden ihre Fabriken wohl in EU-Länder verlegen. Das britische Pfund ist ins Bodenlose gefallen, was Importe und den geliebten Ibiza-Urlaub prohibitiv teuer macht, Schatzkanzler George Osborne stellt Budgetkürzungen in Aussicht und das geliebte britische Gesundheitssystem ist in Gefahr, weil es in Zukunft an polnischen Krankenschwestern mangeln könnte. So fühlt sich "independence" - Unabhängigkeit - in einer hochgradig vernetzten, arbeitsteiligen Welt wechselseitiger Abhängigkeiten an.

Dazu kommt, dass der 23. Juni das Ende des Vereinigten Königreichs markieren könnte: Ein neuerliches Schottisches Unabhängigkeits-Referendum scheint aus heutiger Sicht so gut wie sicher und selbst im loyalistischen Nordirland wird offen die Frage einer Wiedervereinigung mit Irland - der Traum der Republikaner - diskutiert.

Kurzum: ein Desaster.

Eine Woche nach dem Referendum ist die Zeit für ein J’accuse gekommen, es ist an der Zeit, die Schuldigen zu benennen und Lehren zu ziehen: für Großbritannien, für die EU, aber auch für Österreich und Deutschland.

Die Torheit der Regierenden

Die US-Historikerin Barbara Tuchman schrieb in ihrem Klassiker "Die Torheit der Regierenden" folgenden Satz nieder: "Die gesamte Geschichte, unabhängig von Zeit und Ort, durchzieht das Phänomen, dass Regierungen und Regierende eine Politik betreiben, die den eigenen Interessen zuwiderläuft." Der britische Premierminister mit Ablaufdatum, David Cameron, ist ein lebender Beweis für die Richtigkeit von Tuchmans Kernthese. Die Menschheit, schreibt sie weiter, könne kaum etwas schlechter als regieren. "In der Regierungskunst, so scheint es, bleiben die Leistungen der Menschheit weit hinter dem zurück, was sie auf fast allen Gebieten vollbracht hat. Weisheit, die man definieren könnte als den Gebrauch der Urteilskraft auf der Grundlage von Erfahrung, gesundem Menschenverstand und verfügbarer Information, kommt in dieser Sphäre weniger zur Geltung und ihre Wirkung wird häufiger vereitelt, als es wünschenswert wäre." So beginnt ihre höchst aktuelle Philippika. "Warum agieren die Inhaber hoher Ämter so oft in einer Weise, die der Vernunft und dem aufgeklärten Eigeninteresse zuwiderläuft? Warum bleiben Einsicht und Verstand so häufig wirkungslos?" Und dann zündet sie ein Feuerwerk von Fragen: Warum zogen die Trojaner das verdächtige hölzerne Pferd hinter die Mauern ihrer Stadt, obwohl sie allen Grund hatten, eine Kriegslist zu vermuten? Warum verspielte George III. die Kolonien? Warum ließen sich Karl XII. von Schweden, Napoleon Bonaparte und dann Adolf Hitler auf eine Invasion Russlands ein, obwohl die Versuche der jeweiligen Vorgänger stets in einer katastrophalen Niederlage für die Angreifer geendet hatten? Warum hält die amerikanische Wirtschaft am Wachstumsparadigma fest, selbst wenn heute (das Buch ist notabene bereits 1984 erschienen) nachgewiesen ist, dass damit der Planet aufs Spiel gesetzt wird?

Seit dem 23. Juni könnte man hinzufügen: Warum setzte der britische Premierminister David Cameron ein Referendum über die EU-Mitgliedschaft Großbritanniens an, nur um seine Position in der immer euroskeptischer werdenden Konservativen Partei zu festigen? Und warum setzt sich sein eigentlich gar nicht so europakritischer Hauptkonkurrent Boris Johnson an die Spitze der Austrittsbefürworter, nur um Kalif anstelle des Kalifen zu werden und sich anschließend in den eigenen Winkelzügen zu verheddern und sich so als Kandidat für die Fühungsrolle der Konservativen Partei aus dem Rennen zu kataputieren?

Die Antwort liegt laut Tuchman in der Torheit oder im Starrsinn als eine besondere Form von Missregierung, die dem Eigeninteresse des jeweiligen Staates und seiner Bürger zuwiderläuft. "Im Eigeninteresse liegt all das, was dem Staatskörper zum Wohlergehen und zum Vorteil gereicht; von Torheit sprechen wir angesichts einer Politik, die hieran gemessen kontraproduktiv ist", schreibt Tuchman.

Die Torheit der Regierten

Es gibt in entwickelten Demokratien aber noch einen weiteren Schuldigen: den Souverän. Der hat zwar bekanntlich immer recht, aber so einfach sollte man ihn dennoch nicht davonkommen lassen. Das Teuflische ist aber, dass viele Demokratien zu Postdemokratien verkommen sind und die Rechtspopulisten sich anschicken, das, was noch davon übrig bleibt, zu einer Mehrheitsdiktatur zu pervertieren.

Propagandistisches Gefasel

Die Vertreter der britischen Ukip, der österreichischen FPÖ, der französischen Front National, der ungarischen Fidesz oder der niederländischen Partij voor de Vrijheid, der türkischen AKP oder Putins Jedinaja Rossija verfolgen eine perfide Propaganda: Sie faseln vom "wahren Volk", das gegen die Eliten aufbegehren müsse, vom den "ordentlichen und anständigen Bürgern", die von dekadenten urbanen Kosmopoliten gegängelt werden, und sprechen von einem "wir" und einem "uns", das alle, die nicht ihrer Meinung sind, zu "anderen" und zu "denen" macht.

Das Geschäft der Rechtspopulisten besteht darin, mit einer Politik der Gefühle all jene, die das rationale Argument vorziehen, als abgehobene Experten abzukanzeln, die jeglichen Kontakt zum "wahren Volk" verloren haben. Andersdenkende werden angefeindet und Künstlern und Uni-Professoren schickt man Schocktruppen im Gewand der "Identitären" ins Haus. Eine wehrhafte Demokratie wird sich der Propaganda und Einschüchterung der von Putins Russland gönnerhaft unterstützten Rechtspopulistischen und Nationalistischen Internationalen robust und selbstbewusst in den Weg stellen müssen.

Der Niedergang traditioneller Medienkanäle hat zudem die Sitten verrohen lassen und den aufgeklärten Citoyen zivilisierter Diskursräume beraubt. Wo früher das beste Argument abgewogen wurde, bekommt in der neuen Ökonomie der Aufmerksamkeit Gehör, wer die schrägsten Sätze am schrillsten herauskrakeelt.

Boulevardmedien erklären der post-proletarischen Unterschicht, die Boulevard und Rechtspopulisten zur Hetzmasse in Elias Canettischen Sinn umformen wollen, dass der neue Klassenfeind aus Polen oder Rumänien kommt und nicht nahe dem Londoner Kensington Garden oder in Mayfair wohnt, oder im Flüchtlingsheim und nicht in der Kaasgrabengasse, Bellevue- oder Himmelstraße, wo Wiens Noblesse Tür an Tür mit den Nouveau riche wohnt - so als wären syrische Flüchtlinge an den knappen Kassen der öffentlichen Haushalte schuld und nicht die Rettung von Pleite-Banken, die Steuerschon-Tricks der Superreichen und der Konzerne, oder der Widerstand gegen Erbschafts- und Vermögenssteuer.

Wo die Infrastruktur der Demokratie - gehaltvolle Massenmedien - kollabiert, gerät das Gemeinwesen ins Trudeln.

Was, wenn der Souverän unrecht hat? Die Schlussfolgerung: Der Souverän hat die verdammte Pflicht, sich über die Entscheidungen, die in der Demokratie anstehen, eingehend und umfassend zu informieren. Wer das nicht tut, handelt fahrlässig und unverantwortlich. Freilich braucht der Citoyen ein Medien-Ökosystem, das Wählerinnen und Wähler informiert und auch herausfordert und nicht in einer diffusen Gefühlsmelange bestärkt, die Meinungs-Silos in den Sozialen Medien müssen aufgebrochen und die Diskurs-Kultur dort muss verbessert werden.

Russisches Roulette

Wahlen und Referenden sind zu wichtig, um sie dem bipolaren Stimmungsschwankungen einer "Politik der Gefühle" zu überlassen. Der US-Ökonom Kenneth Rogoff klagte in einem Kommentar für das "Project Syndicate" über die "absurd niedrige Anzahl nötiger Stimmen für einen Austritt, nämlich nur eine einfache Mehrheit. Angesichts einer Wahlbeteiligung von 70 Prozent hatte die Kampagne für einen Brexit tatsächlich nur die Unterstützung von 36 Prozent der Wahlberechtigten." Dies sei keine Demokratie, schreibt Rogoff, "sondern russisches Roulette für Republiken". Rogoff plädiert in seinem - übrigens hitzig diskutierten und mit einigen guten Argumenten auch scharf kritisierten - Text für höhere Hürden, etwa eine 60-Prozent-Mehrheit. So sehr Rogoff auch kritisiert wurde, die ketzerische Frage, ob der Souverän nicht auch irren kann, ist angesichts der Brexit-Entscheidung legitim.

Die kanadische Historikerin Margaret MacMillan weist in diesem Zusammenhang in Text für die kanadische Zeitung "The Globe and Mail" auf die Ironie hin, dass das Referendum die Autorität der geachteten britischen Institution, des Parlaments unterminiert hat. Warum wählt man eigentlich Volksvertreter, wenn man ihre Entscheidungen in Referenden hinterfragt? MacMillan hat damit die derzeitige Verfassungskrise in Großbritannien (vielleicht sollte man bald England schreiben) gut auf den Punkt gebracht: Denn wie soll Westminster - wie vom Wahlvolk mit 52-prozentiger Mehrheit gewünscht - über ein Rechtsmaterie zum EU-Austritt abstimmen, wenn die Mehrheit im Ober- und Unterhaus gegen einen solchen Austritt ist? Als Resume findet sich im Barbara Tuchmans Buch "Die Torheit der Regierenden" folgender, resignativer Satz: "Wir können nur weiterwursteln, wie wir es in diesen drei- oder viertausend Jahren getan haben . . ."

Nein. Können wir nicht.