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Jurij Dmitrijew - Aufarbeiter der Stalin-Verbrechen - wird 80 Jahre nach dem "Großen Terror" der Prozess gemacht.
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Petrosawodsk. Irgendwann hatte sich seine Spur verloren. In den 1930er Jahren, in den dichten Kieferwäldern im Niemandsland zwischen Russland und Finnland. 70 Jahre lang hat die Familie von Elwira Alexandrowna nach dem Schicksal des Großonkels geforscht. Bis sie schließlich 2007 den Namen in einem Totenbuch fand und der Verdacht zur Gewissheit wurde: "Erschossen am 11. November 1937".
Das ist nur eine von tausenden Geschichten von Sandarmoch, einem Waldstück in Karelien, 600 Kilometer nördlich von Sankt Petersburg. Zwischen 1937 und 1938, während des "Großen Terrors" unter Josef Stalin, soll das Volkskommissariat NKWD hier 7500 Menschen erschossen haben. Einmal im Jahr, Anfang August, versammeln sich hier Menschen, um der Toten zu gedenken. Diesmal kam auch Alexandrowna, um Blumen niederzulegen.
Doch heuer waren die Feiern nicht nur von den Schatten der blutigen Vergangenheit getrübt. Sie fanden außerdem das erste Mal seit 1997 ohne Jurij Dmitrijew statt. Dabei war es gerade der schlacksige 61-Jährige mit der weißen Zottelmähne, der die Massengräber vor 20 Jahren entdeckte - und das Schicksal tausender Opfer in akribischer Kleinstarbeit rekonstruierte. Das Totenbuch, in dem Alexandrowna einen Eintrag über ihren Großonkel fand, stammt aus Dmitrijews Feder. Doch jetzt sitzt der Forscher selbst in Untersuchungshaft.
Seit 30 Jahren versucht Dmitrijew, Licht in das Dunkel der Stalin-Verbrechen zu bringen. Weggefährten beschreiben ihn als einen unermüdlichen Datensammler und eigenwilligen Einzelgänger. Aus Archivdokumenten hatte Dmitrijew, der selbst aus der karelischen Hauptstadt Petrosawodsk stammt, geschlossen, dass in den Dreißigerjahren besonders viele Menschen im russisch-finnischen Grenzgebiet hingerichtet worden sein mussten. Auf seinen Streifzügen durch die karelischen Wälder stieß er 1997 auf eingesackte Erdmulden: tausende Leichen, verscharrt im Unterholz, mit dem Gesicht nach unten und Einschusslöchern in der Schädeldecke. Die Totengruben von Sandarmoch sind eines der größten Massengräber der Sowjetzeit.
Vorwürfe "lächerlich"
Mit seinem Engagement hat sich Dmitrijew, der gar kein studierter Historiker ist, in Russland nicht nur Freunde gemacht: Zuletzt ist die kritische Auseinandersetzung mit den Stalin-Verbrechen zugunsten des patriotischen Gedenkens an die Heldentaten im Zweiten Weltkrieg, im "Großen Vaterländischen Krieg", in den Hintergrund gerückt. Während sich der Ausbruch des "Großen Terrors" von 1937/38 in diesem Sommer zum 80. Mal jährt, hatte Präsident Wladimir Putin zuletzt die "Dämonisierung Stalins" als "entbehrlich" bezeichnet sowie als einen "Versuch, die Sowjetunion und Russland zu attackieren".
Die Vorwürfe, die gegen Dmitrijew vorgebracht werden, sind schwer: Seit Juni wird ihm wegen Kinderpornografie der Prozess gemacht. So sollen Ermittler auf seinem Computer dutzende Nacktbilder seiner heute 12-jährigen Adoptivtochter gefunden haben. Doch seien das "Gesundheitstagebücher", um den Gesundheitszustand - das Mädchen war zum Zeitpunkt ihrer Adoption stark unterernährt - für das Jugendamt zu dokumentieren, sagen Angehörige. Auch Lew Schtscheglow, Präsident des Nationalen Instituts für Sexualforschung in Moskau, hat die Vorwürfe als "lächerlich" bezeichnet und den Bildern jegliche pornografische Eigenschaften abgesprochen.
So halten viele Beobachter den Prozess für eine Kampagne, um Dmitrijew zum Schweigen zu bringen. Russische Menschenrechtler haben den Mann, dem bis zu 15 Jahre Haft drohen, bereits als politischen Gefangenen eingestuft. 1600 Menschen haben eine Online-Petition für Dmitrijew unterschrieben, darunter die Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexejewna und der US-Historiker Timothy Snyder. Sein Kollege Antony Beevor sieht im Prozess eine "verleumderische Attacke".
Das Verfahren begann ausgerechnet im 80. Jahr nach dem "Großen Terror". Mit dem Befehl 00447, am 30. Juli 1937 von NKWD-Chef Nikolaj Jeschow und einen Tag später von Stalin persönlich unterzeichnet, begann die größte Massenoperation davon. Mit der "Operation zur Repression ehemaliger Kulaken, Krimineller und anderer antisowjetischer Elemente" konnte jeder zum "Volksverräter" werden - und Millionen Bürger wurden es auch: Bis 1938 wurden 1,5 Millionen Menschen verhaftet und 680.000 hingerichtet. Zwischen August 1937 und November 1938 haben die Sowjets durchschnittlich 1500 Menschen erschossen - täglich.
Sympathie für Stalin
Doch je weiter die Zeit in die Ferne rückt, desto mehr scheint Stalin, der den Terror persönlich angeordnet hatte, an Schrecken zu verlieren. Laut einer Umfrage des unabhängigen Lewada-Zentrums gaben Anfang des Jahres 46 Prozent der Befragten an, Stalin mit "Begeisterung", "Verehrung" oder "Sympathie" zu begegnen; im März 2016 waren es noch 37 Prozent. Auch im öffentlichen Raum wird Stalin zunehmend rehabilitiert: So haben sich entsprechende Denkmäler seit 2014, dem Jahr der Krim-Annexion, verdreifacht. Anders als in Deutschland, hätte es in Russland nie eine Aufarbeitung der Sowjet-Verbrechen gegeben, kritisiert der Historiker Nikita Petrow. Dadurch sei der Staat "zu einem schweigenden Beschützer Stalins" geworden.
So wird relativiert, verschwiegen, verzerrt. Im staatsnahen Fernsehen wurden zuletzt krude Theorien präsentiert, in Sandarmoch hätten auch die Finnen ihrerseits tausende sowjetische Soldaten ermordet. Zugleich wird der Zugang zu den Archiven erschwert, und kritische Initiativen, die sich mit der Aufarbeitung der Geschichte beschäftigen, sind Repressionen ausgesetzt. Wie die Menschenrechtsorganisation "Memorial", die als "ausländischer Agent" eingestuft wurde. Erst vor kurzem hat sie eine Liste mit 40.000 Namen von NKWD-Mitarbeitern publiziert, die wohl am "Großen Terror" beteiligt waren.
"Wir werden erst dann eine verantwortungsvolle Regierung haben, wenn wir die Menschen aufgeklärt haben", begründete Dmitrijew einmal seine Arbeit. Jetzt scheint er selbst ein Opfer seiner Aufklärung geworden zu sein.