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Die trägen Träumer in den Wipfeln

Von Kerstin Viering

Wissen

Warum faulenzen Faultiere im Zoo viel mehr als in der Wildnis? | Schlafphasen, wie sie sonst nur bei Vögeln oder Säugetieren vorkommen. | Berlin. In einem Krankenhaus in Panama-Stadt hat Bryson Voirin einen echten Lacherfolg erzielt. Woher er denn diese tiefe Wunde an der Hand habe, wollte der Arzt wissen. "Ich habe ihm erzählt, dass mir ein Faultier fast den Finger abgebissen hätte", erinnert sich der Biologe und muss im Nachhinein selber grinsen über die Heiterkeitsausbrüche des Klinik-Personals.


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Von so einem Vorfall hatte noch niemand gehört. Ausgerechnet ein Faultier!

Das langsamste aller Säugetiere, das sich nur im Zeitlupentempo durch das Kronendach des Regenwaldes bewegt. Kein ernstzunehmender Gegner, so scheint es. Voirin weiß es besser. Beim Versuch, die trägen Baumbewohner zu fangen, hat er schon etliche Wunden davongetragen. Doch das ist ihm die Sache wert. Denn er hofft, dass ihn die Faultiere in Panamas Wäldern in die Geheimnisse des Schlafs einweihen werden.

"Dieser Zustand ist immer noch eines der größten ungelösten Rätsel der Biologie", erklärt der US-Amerikaner, der am Max-Planck-Institut (MPI) für Ornithologie in Radolfzell am Bodensee arbeitet. Alle Tiere von der Fruchtfliege bis zum Elefanten verbringen einen Teil ihres Lebens in diesem Ruhezustand. Wenn man sie vom Schlafen abhält, sterben sie. Doch warum? Darauf hat noch niemand eine endgültige Antwort. "Wir Menschen verschlafen ein Drittel unseres Lebens und wissen nicht warum", resümiert Bryson Voirin.

Er und seine Kollegen wollen mehr Licht ins Dunkel bringen, indem sie das Schlafbedürfnis verschiedener Tierarten untersuchen. Sie versuchen herauszufinden, warum ein Pferd mit zwei Stunden Schlaf pro Tag auskommt, eine Katze aber rund 16 Stunden braucht. Was unterscheidet die Kurz- von den Langschläfern? "Im Labor oder im Zoo lässt sich diese Frage nicht richtig beantworten", sagt Martin Wikelski, der das MPI in Radolfzell leitet.

Schließlich ist bekannt, dass Tiere in Gefangenschaft oft ganz andere Verhaltensweisen an den Tag legen als ihre Artgenossen in freier Wildbahn. Trotzdem stammen fast alle bisherigen Erkenntnisse über den tierischen Schlaf aus Laboruntersuchungen. Denn der Wechsel von Ruhen und Wachen lässt sich am besten an den Gehirnströmen ablesen, die man an der Kopfhaut messen kann. Die dazu nötigen Geräte aber sind normalerweise zu groß, um ein wildlebendes Tier durch seinen Alltag zu begleiten. Erst seit kurzem gibt es auch tragbare Modelle im Miniformat, mit deren Hilfe Voirin die Geheimnisse des Schlafs nun zum ersten Mal in freier Natur erforschen kann.

Faultiere schienen sich für diese Premiere anzubieten. Immerhin dösen sie im Zoo satte 16 bis 17 Stunden vor sich hin. Da sollte es doch problemlos möglich sein, ein paar dieser Schlafmützen im Regenwald einzufangen und mit Messtechnik auszurüsten. Doch erst einmal gilt es, die gut getarnten Tiere überhaupt zu entdecken. "Wenn man dann endlich eins gefunden hat, sitzt es natürlich immer ausgerechnet auf dem höchsten Baum", sagt Bryson Voirin. Also schießt er mit einer Schleuder ein Seil ins Geäst und macht sich daran, einen rund 40 Meter hohen Regenwaldriesen zu erklimmen. Auch einem Kletterexperten wie ihm wird dabei klar, dass der Mensch für ein Leben in Baumkronen einfach nicht perfekt ausgerüstet ist. "Selbst ein Faultier kann mir da oben durchaus davonlaufen", gibt der Biologe zu.

Doch irgendwann ist einer der Baumbewohner in Reichweite, und der Forscher kann es einfangen und auf den Boden bringen. Dort schneidet er das Fell auf dem Kopf des Faultiers ganz kurz und setzt ihm eine Kappe mit Elektroden auf. "Das ist für das Tier vollkommen schmerzlos", betont er. Zum Schluss bekommt der Testkandidat noch ein Sendehalsband umgelegt und wird wieder auf seinen Baum entlassen. Nach zehn Tagen wird Bryson Voirin ihn wieder anpeilen, einfangen und von seinem Mess-Hut befreien. Dann kann er die darin gespeicherten Daten auswerten.

Die so ermittelten Kurven der Gehirnströme zeigen bei Faultieren unterschiedliche Schlafphasen, die in dieser Form nur bei Säugetieren und Vögeln vorkommen. So versinken die Baumbewohner zeitweise im Tiefschlaf, dann arbeitet ihr Gehirn wieder ganz ähnlich wie im Wachzustand. Dieser leichtere Schlaf, den Wissenschafter wegen der damit verbundenen raschen Augenbewegungen "Rapid Eye Movement"- oder kurz REM-Schlaf nennen, ist typischerweise mit Träumen verbunden. Und tatsächlich hat Bryson Voirin eine Vorstellung, wie die Traumwelt von Faultieren aussehen könnte. "Im REM-Schlaf bewegen sie oft ihren Kiefer wie beim Kauen", sagt der Forscher. Das könnte bedeuten, dass sie vom Fressen träumen.

Viel Zeit für angenehme Träume aber haben sie gar nicht. Die 25 Tiere, die Bryson Voirin bisher untersucht hat, schliefen gerade einmal rund 9,5 Stunden am Tag - satte 6,5 Stunden weniger als ihre Artgenossen im Zoo. "Die spannende Frage ist natürlich, wie diese gewaltigen Unterschiede zustande kommen", sagt der Biologe. Dass Feinde die wildlebenden Faultiere nicht zur Ruhe kommen lassen, während ihre Zoo-Verwandten in der Sicherheit ihres Geheges schlummern, wäre eine Erklärung. Doch auf einer raubtierfreien Insel schlafen die Faultiere im Durchschnitt genauso kurz wie ihre Artgenossen in anderen Regenwaldgebieten.

Was männliche Faultiere aus dem Schlummer reißen kann

Was sonst aber könnte hinter den Schlafexzessen der Zoobewohner stecken? Vielleicht neigen sie zu längeren Ruhephasen, weil sie keine Nahrung suchen müssen. Vielleicht ist ihnen auch einfach langweilig. Oder ihnen fehlen die anregenden Kontakte zu anderen Artgenossen. Die nämlich können ein Faultier durchaus aus der Ruhe bringen.

Einmal hat Bryson Voirin einem schlafenden Männchen ein Tonband mit dem durchdringenden Geschrei eines paarungsbereiten Weibchens vorgespielt. Das riss den vierbeinigen Casanova nicht nur kurzfristig aus seinem Schlummer, es ließ ihn auch drei Tage lang nicht mehr richtig zur Ruhe kommen: Sein normaler Schlafrhythmus war gestört, und der REM-Schlaf fiel sogar ganz aus. Die Aussicht auf ein mögliches Rendezvous ließ das Tier unermüdlich durchs Geäst streifen und nach dem Weibchen suchen. Wer will da schon schlafen.