Es war ein langer, von zahlreichen Brüchen und Umwegen gekennzeichneter Weg, bis sich die Österreicher selbst endlich doch noch als eigenständige Nation betrachteten. Am Mittwochabend machte sich der Philosoph Rudolf Burger - "inspiriert durch das Gedankenjahr 2005" - bei einem Vortrag im Rahmen der Serie "WeltStadt Wien" daran, die vielfach verschlungenen Wege zur österreichischen Nation nachzuzeichnen.
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Das Österreich, das nach der Katastrophe des Ersten Weltkrieges 1918 entstand, war ein Staat, den niemand wollte. Als er 1945 wiederauferstand, war daraus plötzlich ein Gebilde geworden, das alle wollten. Wie ist es dazu gekommen?
Naturgemäß kommt dabei der Zeit zwischen 1938 und 1945, als Österreich Teil Nazi-Deutschlands war, zentrale Bedeutung zu. "Die Österreicher wollten so lange Deutsche werden, bis sie es wurden", zitiert Burger hierfür den deutschen Sozialdemokraten Richard Löwenthal. Das Trauma vom "Anschluss" war geboren. Seitdem war Österreich praktisch frei von allen Bestrebungen, jemals wieder Teil Deutschlands zu werden. Wen Gott strafen will, dessen Gebete erhört er bekanntlich.
Tatsächlich zeigte Berlin bis 1933 allem Anschlusswerben der Österreicher, dem neben den Deutschnationalen vor allem die Sozialdemokratie verfallen war, beharrlich die kalte Schulter. In die Tat umgesetzt wurde es erst von einem "oberösterreichischen Provinzler" (Burger über Hitler), der Österreich "zu seinem ersten Angriffsziel" machte.
An dieser seiner Einschätzung lässt Burger keinen Zweifel: Der gescheiterte Nazi-Putsch gegen das austrofaschistische Regime Dollfuß' 1934 ist für ihn "die erste Niederlage Hitlers" und "die harte Abwehrpolitik durchaus erfolgreich". Zumindest bis zum März 1938, als Hitlers Truppen die Grenzen überschritten. Aber auch da gilt für ihn: "Der Anschlussjubel, der ihn begrüßte, war kleiner, als er heute gemacht wird." Und der Jubel, der ehrlich gemeint war, sei in erster Linie ökonomisch begründet gewesen.
Viel Platz widmet Burger dem gespaltenen Verhältnis der Sozialdemokratie zur österreichischen Nation vor 1945. Erst nach der Machtergreifung Hitlers wurde der Anschluss-Paragraf aus dem Parteiprogramm entfernt - und auch dann lehnten viele lediglich den Anschluss an Nazi-Deutschland, nicht aber an Deutschland an sich ab.
Erstes Opfer oder Mit-Täter? - auch dieser Frage widmet Burger breiten Raum, war die Antwort doch entscheidend für die Wiederauferstehung des Landes. Er verweist darauf, dass die "Opfer-These" nicht in Österreich erfunden wurde, sondern aus Downing Str. No. 10, dem Sitz des britischen Premiers, stamme: Churchill sprach bereits 1942 von Österreich als erstem Opfer Hitlers - eine Formulierung, die später auch Eingang in die Moskauer Deklaration 1943 fand.
Deutschland blieb aber zentraler Bezugspunkt für die nationale Identität Österreichs als "jenes Landes, das nicht Deutschland ist". Jede Bestimmung ist eben - getreu nach Spinoza - auch Negation. Das gilt im Guten wie im Schlechten, denn dem Trauma des Anschlusses entsprach nach 1918 das Trauma des erzwungenen "Ausschlusses" vom deutschen Reich - ein Gefühl, das die Deutschnationalen schon während der Monarchie, die alle nationalen Bestrebungen aus Selbsterhaltungstrieb tunlichst gering zu halten versuchte, kultivierten.
Nach 1945 war - im Unterschied zur Ersten Republik - die Nationsbildung erfolgreich. Die Ausschluss-/Anschluss-Traumata sind überwunden und in den Augen der Menschen, die hier leben, ist Österreich eine Nation. Und dass der Nationalstaat heute und in Zukunft nur mehr einen europäischen Weg gehen könne, ist für Burger abschließend ein Glück.