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Die Tschetschenen und die Russen -eine sorgfältig gepflegte Feindschaft

Von Wolfgang Tucek

Politik

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Die Tschetschenen leben seit dem frühen Altertum in den unwirtlichen Bergen des östlichen Nordkaukasus. Alle motivierten Heerführer der letzten Jahrtausende mussten auf ihren Eroberungsfeldzügen dieses Gebiet queren. Die Perser, die Griechen unter Alexander dem Großen, die Römer, die Hunnen, die Mongolen, die Türken und schließlich die Russen kamen vorbei und behelligten die Tschetschenen mit ihren Herrschaftswünschen. Sind die Tschetschenen also ein grimmiges Kriegervolk seit jeher? Sie sind geprägt von den traumatischen Erfahrungen, die sie in unzähligen Generationen mit Fremdherrschaft und kolonialer Gewalt gemacht haben.

Tradition

Ein altes tschetschenisches Sprichwort sagt sinngemäß: "Die Sumerer sind verschwunden, die Tschetschenen bleiben für immer." Die Sumerer lebten wohlgemerkt rund 3000 Jahre vor Christus. Vielfach wird ihre außergewöhnliche Resistenzfähigkeit der einzigartigen demokratischen Clanstruktur zugeschrieben, in der sie von Anbeginn organisiert sind. Die soziale Basis bildet bis heute der so genannte Taip. Der Taip ist ein Verbund mehrerer Siedlungen und Verwandtschaftsgruppen, die durch einen gemeinsamen Ahnen verbunden sind. Begriffe wie Adel oder Herrschaft waren den Tschetschenen ursprünglich fremd. Geregelt wird das Zusammenleben durch ein uraltes kaukasisches Gewohnheitsrecht, das Adat. Es regelt sämtliche sozialen Umgangsformen. So sind Gastfreundschaft, gegenseitige Hilfe und Achtung vor der Natur ebenso unumstößliche Gesetze wie die Blutrache. Überliefert wurde das Adat tausende Jahre lang ausschließlich mündlich. Die Schrift lernten die Tschetschenen erst mit der russischen Besatzung im 20. Jahrhundert zu gebrauchen.

Kontakt mit den Russen

Das verhängnisvolle Aufeinandertreffen mit den Russen nahm in der Zeit der zaristischen Expansionspolitik unter Peter dem Großen, Anfang des 18. Jahrhunderts, seinen Lauf. Die vorerst oberflächlich christianisierten Tschetschenen wandten sich im Widerstand gegen das Zarenreich dem Islam sufistischer Prägung zu. Die Organisation dieser Glaubenrichtung in Bruderschaften korrelierte hervorragend mit den bestehenden Clanstrukturen. Unter dem heute als Volkshelden gefeierten Scheich Mansur Uschurma erhoben sich die Tschetschenen 1785 erstmals gegen die russische Herrschaft. Als Nächster trat der dagestanische Aware Imam Schamil gegen die Russen an. Die Sufi-Bruderschaften im Rücken bekämpfte der sagenumwobene Imam 1834 - 1859 die zaristische Übermacht hartnäckig. General Jermolow, der russische Heerführer, musste einmal mit Staunen feststellen, dass Tschetschenen das allgemein verständliche Recht des Stärkeren nicht begreifen, berichtete der zeitgenössische Gelehrte Jakob Reinig.

Nach der Niederlage Schamils wurden die Tschetschenen vorerst unterworfen. Kleinkriege und Aufstände im gebirgigen Süden Tschetscheniens standen aber vor allem nach der Oktoberrevolution und den darauf folgenden Wirren durchaus auf der Tagesordnung. 1944 kam das nächste Trauma für die zähen Kaukasier. Stalin ließ die Tschetschenen als mutmaßliche deutsche Kollaborateure großflächig nach Kasachstan deportieren. Die Opfer unter der tschetschenischen Bevölkerung wurden auf 200.000 bis 300.000 geschätzt.

Die letzten 50 Jahre

Die Überlebenden durften 1956 zurückkehren. Inzwischen hatten sich die Russen vielfach das Land der Tschetschenen angeeignet und das politische und wirtschaftliche Leben wurde großteils russisch dominiert. Die Heimgekehrten führten eine Art Parallelleben, das nach wie vor vom Adat und nebenbei dem islamischen Recht, der Scharia, geprägt war.

Der Zerfall der Sowjetunion 1991 rief den Luftwaffengeneral Dschochar Dudajew auf den Plan. Als Vorsitzender des tschetschenischen Nationalkongresses wurde er, bei einer von den Russen nicht anerkannten Wahl, am 27. Oktober 1991 zum Präsidenten von Tschetschenien gewählt. Kurz darauf rief er die Unabhängigkeit aus. Als Zeichen seiner Selbsteinschätzung ließ er Briefmarken mit den tschetschenischen Nationalikonen Scheich Mansur und Imam Schamil und eben seiner Wenigkeit drucken. Die von den Russen unterstützte bewaffnete Opposition machte ihm die Kontrolle über die junge Republik aber schwer. Nach anhaltenden militärischen Drohgebärden marschierten die Russen im Dezember 1994 ein. Sie schafften es nicht, Tschetschenien zu unterwerfen. Dudajew fiel kurz vor Kriegsende. Im Friedensvertrag vom August 1996 wurde die Frage der tschetschenischen Unabhängigkeit für fünf Jahre eingefroren.

Als der tschetschenische Feldkommandant Schamil Bassajew im Sommer 1999 im Namen der islamischen Solidarität in Dagestan einfiel und verheerende — bis heute ungeklärte — Bombenanschläge in Russland "tschetschenischen Terroristen" zugeschrieben wurden, eröffnete Putin im September 1999 die nächste Runde.