Zum Hauptinhalt springen

Die Tücken des Zitats

Von Edwin Baumgartner

Kommentare

Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 10 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Wenn die politische Korrektheit die Axt schwingt, wird die Kunst abgeholzt. Das jüngste Opfer ist der in den USA lebende gebürtige estnische Komponist Jonas Tarm. Das New-York-Youth-Symphony-Orchester setzte Tarms "Marsh u Nebuttya" ab, weil das Orchesterwerk des Einundzwanzigjährigen das "Horst-Wessel-Lied" zitiert. Um allen Missverständnissen vorzubeugen: Das Zitat des NS-Kampflieds ist nicht affirmativ. Tarm setzt sich mit der Ukraine auseinander. Die 45 Sekunden des Horst Wessel sind die musikalische Chiffre für den Nationalsozialismus, nicht sein Loblied.

Die New York Youth Symphony indessen verlangte vom Komponisten eine Erklärung. Solch ein Begehren ist für einen Künstler demütigend: Als habe er sich im Werk nicht klar genug ausgedrückt; als könne es jemand für möglich erachten, Tarm sympathisiere mit dem Nationalsozialismus.

Außerdem offenbart das Verlangen eine erschreckende Unkenntnis der Literatur: Der exil-österreichische Komponist Joseph Horovitz zitiert in seinem fünften Streichquartett das "Horst-Wessel-Lied", der in Auschwitz ermordete Pavel Haas in einer unvollendeten Symphonie, der Kommunist Paul Dessau in seinem "Horst-Dussel-Lied", der deutsche Avantgarde-Komponist Karlheinz Stockhausen in seinen "Hymnen". Immer steht es für das Grauen einer diktatorischen Ideologie. So auch bei Tarm.

Ist das wirklich so unverständlich? Oder fürchtet man, dass man das Zitat missverstehen und mit Wladimir Putin ebenso assoziieren könnte wie mit einer politischen Facette der neuen Ukraine?

So oder so: Tarms Werk muss gehört werden. Diskutieren kann man es danach immer noch.