Die Ära des Autokraten Erdogan könnte enden. Aber ein EU-Beitritt liegt weiter sehr fern.
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Am Sonntag entscheidet sich bei den Präsidenten- und Parlamentswahlen die politische Zukunft der Türkei. Nach 20 Jahren an der Macht - erst als Premier, dann als Staatspräsident - wird Recep Tayyip Erdogan erstmals ernsthaft von einem Bündnis aus sechs Oppositionsparteien herausgefordert. Als Anführer der Opposition hat sich der 74-jährige Kemal Kilicdaroglu, Parteichef der links-säkularen CHP, profiliert. Diesmal gelang es dem Alewiten, sechs Oppositionsparteien hinter sich zu versammeln.
Und Kilicdaroglu hat sich bewusst als Gegenpol zu Erdogan inszeniert: So wendet sich der bescheiden wirkende Politiker ganz bewusst per Videos von seinem Küchentisch an seine Landsleute. Bei einem Wahlsieg will Kilicdaroglu wieder auf EU-Kurs gehen und "sämtliche demokratischen Standards der Europäischen Union" vollständig umsetzen. Das von Erdogan im Jahr 2017 per Referendum geschaffene Präsidialsystem soll umgebaut werden und das Parlament wieder mehr Macht bekommen.
Aber können die Beziehungen zwischen der Türkei und der EU nach der jahrelangen Entfremdung rasch normalisiert werden? In Erinnerung bleibt die Brüskierung der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die bei einem Besuch in Ankara vor zwei Jahren auf ein entfernt stehendes Sofa platziert wurde. Die türkische Regierung gab die Schuld für das "Sofagate" dem EU-Protokoll, das nur den Ratspräsidenten Charles Michel neben Erdogan setzen wollte.
Kilicdaroglu hat Verhandlungen über eine neue Form des Zollabkommens mit der EU in Aussicht gestellt. Dieses sieht derzeit nur für gewerbliche Waren einen zollfreien Austausch vor, nicht für landwirtschaftliche Produkte und Stahl. Die im Jahr 2005 gestarteten Beitrittsverhandlungen mit der Türkei wurden 2018 abgebrochen, vor allem wegen Differenzen über Rechtsstaatlichkeit, Menschen- und Minderheitenrechte und eines unterschiedlichen Wertekatalogs.
Das E-Parlament hat vor einem Jahr in einem Bericht Bedingungen für die Wiederaufnahme von Beitrittsverhandlungen gestellt: So müssten Spannungen mit benachbarten EU-Ländern - Griechenland, Bulgarien und Zypern - abgebaut werden. Der Druck auf die Zivilgesellschaft müsste nachlassen, Oppositionelle und Journalisten müssten aus der Haft entlassen werden. Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte dürften nicht länger von der Türkei missachtet werden. Positiv wurde die Aufnahme von Millionen Flüchtlingen aus Syrien vermerkt. Auch Erdogans Vermittlungsversuche im Krieg Russlands gegen die Ukraine, die zum Abkommen über Getreideexporte führten, wurden gelobt. Die EU hat großes Interesse daran, mit der Türkei in der Außen- und Sicherheitspolitik oder in Energiefragen zusammenzuarbeiten. Aber dazu muss diese den anhaltenden Widerstand gegen Schwedens Nato-Beitritt aufgeben. Die Türken erwarten sich von der EU auch eine Abschaffung der Visumpflicht und einen Zugang zum Arbeitsmarkt. Aber dazu sind die EU-Regierungen nicht bereit. Der Pfad der Normalisierung bliebe auch bei einem Wahlsieg Kilicdaroglus sehr schmal.