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Die Türkei auf der Suche nach ihrem Platz in der Welt

Von Bernhard Löhri

Gastkommentare

Das komplexe Verhältnis zwischen Europa und dem Land am Bosporus. | Die Türkei hat eine eminent wichtige Funktion an den Bruchlinien zwischen Europa und Asien.


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Genau ein Jahr ist es her, dass ein missglückter Militärputsch in der Türkei die politische und politico-geografische Situation schwer erschüttert hat. Allzu viele Begleitumstände dieses 15. Juli 2016 liegen noch im Dunkeln, viel hat sich aufgewirbelt im Verhältnis Europas zur Türkei. In den vergangenen Jahrzehnten ist einfach viel passiert, noch mehr wurde erhofft, und in vielen Bereichen wurde eine Politik des "Kopf in den Sand" praktiziert.

Diese Türkei soll Mitglied der EU werden, dabei hat dieses Europa nicht einmal seine geografischen Grenzen definiert, sondern wähnt sich als offen. Aber wer in alle Richtungen hin offen sei, sei nicht ganz dicht, hörte man vor Jahren hierzulande in einem freundschaftlichen Dialog zwischen Parteifreunden. Das historische Kleinasien, also den Großteil der Türkei mit Ausnahme Ost-Thrakiens und Istanbuls, Asien zuzuordnen ist jedenfalls nicht jenseitig - und doch sehen viele die Türkei innerhalb der EU. Die Türkei mit der zweitgrößten Armee des Verteidigungsbündnisses Nato, von der EU politisch und verwaltungstechnisch entwickelt: Das wird man sich wohl wünschen dürfen, mag mancher in den USA gedacht haben.

Türkei und Europa, Türkei und Österreich - da gab es große historische Gemeinsamkeiten, aber auch schwere Konflikte, und es stand eigentlich nie in Frage, dass beides beibehalten wird, Konflikte und Kooperation. Wenn Europa seine gesellschaftliche und wirtschaftliche Existenz auf türkische Human-Ressourcen aufbaut, dann hat man sich hoffentlich etwas dabei gedacht. Staatsverständnis, Politikverständnis, Gesellschaftsverständnis - all das ist freilich sehr verschieden, und es wurden eigentlich nie Anstände gemacht, hier Brücken zu bauen. Türkische Arbeitskräfte füllten brav Nischen am Arbeitsmarkt, für Wahlen bot es sich den Parteien an, Stimmenressourcen zu akquirieren ohne mühsame Wahlkämpfe zu organisieren, in vielen Fällen war der Kontakt zu Repräsentanten der türkischen Gemeinschaft ausreichend, seien es Kulturvereine oder sonstige Gruppen, und die Stimmen flossen im Zuge eines Clan-Votings, das zwar verboten, aber doch irgendwie praktisch war. So kippten Mehrheiten in den Arbeiterkammern in Westösterreich genauso wie in Ostösterreich, die Kulturvereine waren auch wichtige Adressaten bei Kampagnen.

Türkei wäre größtes EU-Land

Dieses schlampige Nebeneinander brachte Parallelkulturen und augenzwinkernde Zugeständnisse bei Doppelstaatsbürgerschaften mit sich, die beispielsweise beim Bundesheer schon lange bekannt waren. Direkte Kooperation mit den aktuellen Regierungsparteien brachte Stimmen und die undifferenzierte Hoffnung, dass alles gut gehen werde. Dies entsprach auch dem ostösterreichischen Schlendrian des Durchwurstelns.

Es war ein Fehler, nie zuzugeben, dass die Integration der Türkei für die EU eine enorme Herkulesaufgabe darstellt, die Türkei mit derzeit 79 Millionen Einwohnern - Tendenz klar steigend - wäre mit dem Beitritt das größte Mitglied, die europäische Identität der EU müsste zugunsten eines euro-asiatischen Staatenbundes von Lissabon bis zur Grenze Chinas eingetauscht werden, und die Turkvölker Zentralasiens wären indirekte Teilnehmer am europäischen Diskurs. Diese strategische Überforderung ist evident, wurde jedoch nie ausgesprochen.

Eine Partnerschaft mit der Türkei, etwa in Form eines "euro-orientalischen Wirtschaftsraums" mit Vergemeinschaftung ausgewählter Politikbereiche, ist schon lange im Gespräch, fand allerdings nie den Zugang zum europapolitischen Diskurs.

Selbstbewusste Nation

Die Türkei hat eine eminent wichtige Funktion an den Bruchlinien zwischen Europa und Asien. Mit der kemalistischen Revolution 1922/23 hat die Türkei Kurs in Richtung laizistischem Nationalstaat genommen. Grundtenor der Wahrnehmung der gegenwärtigen Politik der Türkei bleibt aber der Eindruck einer selbstbewussten Nation mit autoritärer politischer Führung, die im Konzert der Weltpolitik mitmischen will. Was die EU der politischen Elite bieten kann, ist sehr schwer auszumachen. Ist es womöglich nur noch die Position der Stärke, dass die Türkei mitteilen will, dass für sie die EU nicht passend ist, und dass man eine Ablehnung durch die EU eher vermeiden will?

Ideengeschichtlich ist in der Türkei eine Entwicklung zu vermuten, in der auf den modernen Nationalismus, der auch eine Grundlage des kemalistischen Staatsverständnisses ist, eine religiöse Ausrichtung auf den Islam als exklusive Gesellschaftsideologie aufgesetzt wird, die der gegenwärtigen Türkei mit all ihrem Bedeutungszuwachs und Machtstatus eine abgehobene Identität gibt. Der früher geschätzte und heute verdammte Fethullah Gülen im US-Exil wirft noch viele Fragen auf. Von den US-Eliten als "Martin Luther des Islam" hochgelobt, übernimmt er nun für die Machthaber in Ankara die Rolle des umfassenden Sündenbocks.

Faszination des Islam

Der Islam mit seinen religiösen, gesellschaftlichen und ideologischen Normen scheint auf die Machthaber in der Türkei eine ungeheure Faszination auszuüben, scheint der Islam doch die Begründung für eine gesellschaftliche und politische Überlegenheit zu versprechen. Exklusivitätsanspruch, abgeleitet aus dem Religionsverständnis des Islam einerseits und Geringschätzung abendländischer christlich/jüdischer Gesellschaftsvorstellungen andererseits, mag diese Entwicklung begünstigen. Das "Abendland" macht es dabei den AKP-Ideologen nicht schwer, ist doch das neoliberale Gesellschaftsbild - eine entseelte und nur auf die materiellen Dimensionen ausgerichtete Gesellschaft ohne Identität und inneren Zusammenhalt - ein leicht zu besiegender Mitbewerber. Ein so genährter Anspruch ideologischer Überlegenheit kann leicht zu neuen politischen Modellen alleinigen Auserwählt-Seins führen, zu einem totalitären System, das die Demokratie überwinden will.

Dass die politischen Führer ihre Bürger nicht aus der politischen Betreuung durch die Türkei freigeben wollen, selbst wenn diese ihre türkische Staatsangehörigkeit zurückgelegt haben, zeigt die auf der Überlegung "Einmal Türke - immer Türke" basierende Konzeption von Politik klar auf. Was zählen Formalitäten, wenn man einem auserwählten Volk angehört, mag da wohl eine Überlegung sein.

Wir erleben eine Re-Ottomanisierung Südosteuropas und eine (Teil)Ottomanisierung Zentralwesteuropas. Disziplinierte islamische Religionsausübung trifft auf lasche, oft belächelte christliche Wertvorstellungen. Großfamilien mit starker Kohäsion treffen auf individualisierte Gesellschaftsstrukturen und ein Szenario der Verstaatlichung der Erziehung. "Da trifft in Europa ein vormoderner, glaubensstarker und kinderfreundlicher Islam auf ein postmodernes, glaubensschwaches und kinderarmes Christentum", formulierte es der Wiener Theologe Paul Zulehner.

Die neue "Öffnung nach Osten" unter Recep Tayyip Erdogan - von manchen auch als "Abwendung vom Westen" bezeichnet - sei, so der Präsident, nur eine Normalisierung der Lage. Die Türkei müsse sich für ihre Nachbarn interessieren, habe das aber bis vor kurzem nicht getan. Es sind offenbar nicht materielle Interessen, sondern Ahnentreue, die das türkische Banner in all jene Lande tragen soll, wo vor Jahrhunderten osmanische Fahnen wehten. Also von Serbien bis zum Kaspischen Meer, vom Jemen bis nach Algerien, aber eben auch in den Kosovo, nach Albanien, Bosnien, Mazedonien und auch Ungarn - um die Tore Wiens nicht zu erwähnen.