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Die Türkei führt einen Kampf an zwei Fronten

Von Heike Hausensteiner und Ines Scholz

Politik

Der Konfliktherd Nordirak, der angestrebte EU-Beitritt der Türkei sowie die Vertiefung der österreichisch-türkischen Handelsbeziehungen stehen heute, Freitag, am Besuchsprogramm des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan in Wien. Er wird Gespräche mit Bundeskanzler Wolfgang Schüssel und Bundespräsident Thomas Klestil sowie mit Vertretern der Wirtschaftskammer Österreich führen. Überschattet wird der Arbeitsbesuch von den aktuellen Ereignissen im Nordirak, die die strategische Partnerschaft zwischen den beiden NATO-Ländern Türkei und USA neuerlich auf eine harte Probe stellen.


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Friktionsfrei sind die Beziehungen zwischen Ankara und Washington lange nicht mehr. Als die Türkei im März die Stationierung von 60.000 US-Soldaten untersagte und damit die Bildung einer amerikanisch-kurdischen Nordfront im Irak verhinderte, hat dies zu offenen Bruchlinien geführt. Die USA zeigten nach der militärischen Kooperationsverweigerung ebenfalls Zähne und verboten ihrerseits der Türkei einen Einmarsch in den Nordirak zur Entwaffnung "kurdischer Rebellen". Das seit dem damaligen Zerwürfnis mühsam gekittete Verhältnis ist nun abermals in seinen Grundfesten erschüttert.

Anlass ist die Verhaftung von elf türkischen Elite-Soldaten durch US-Militärs in Suleimaniyah im Nordirak am vergangen Freitag. Die Türkei reagierte mit Wut und Empörung - zumal Washington den türkischen Soldaten vorwirft, einen Terroranschlag vorbereitet zu haben. Ziel soll laut der über die Medien verbreiteten Version des Pentagon der kurdische Gouverneur von Kirkuk gewesen sein. "Absurd", kontert Ankara; um die Freilassung der Gefangenen zu erwirken, bedurfte es der Intervention des türkischen Premiers bei Vizepräsident Dick Cheney ( George W. Bush war für Erdogan nicht zu sprechen).

Der türkische Außenminister Abdullah Gül erwägt nun, seinen für diesen Monat geplanten Besuch in Washington abzusagen, wo er u.a ein Kreditabkommen mit den USA in der Höhe von 8,5 Mrd. Dollar unterzeichnen soll - eine späte US-Entschädigung für kriegsbedinge Wirtschaftsausfälle in der Türkei, die nun hinfällig werden könnte. Und auch die traditionell eng mit den USA verbündete Armeeführung spricht in Ankara von einer "schweren Vertrauenskrise". Die Gräben, die der rüde Vorfall in das ohnehin brüchige Beziehungsgeflecht der beiden Länder gerissen hat, droht die strategische Partnerschaft aus den Angeln zu heben. Politische Kommentatoren sehen bereits den Bruch der amerikanisch-türkischen Beziehungen.

Alles nicht so schlimm

Das bestreitet jedoch der türkische Botschafter in Österreich, Mithat Balkan, gegenüber der "Wiener Zeitung". Er möchte auch nicht von "Krise" sprechen, sondern beschwichtigt, es sei "eine schwierige Zeit".

Dass sich die Türkei seit dem Irak-Krieg von den USA abwendet und dagegen die europäische Karte ausspielt, diesen Eindruck teilt der Botschafter nicht. "Die Türkei wird ihre Beziehung zu den USA nicht zugunsten Europa opfern." Im Gegenteil, die USA hätten bisher die türkischen EU-Bestrebungen unterstützt, weil sie um die geostrategische Bedeutung des Landes wüssten, so Balkan.

Doch Differenzen gibt es auch zwischen der EU und der Türkei. Die Bestrebungen des Landes, endlich Mitglied der Union zu werden, erweisen sich - verglichen mit der Dauer der Beitrittsverhandlungen der anderen Kandidatenländer - als endlose Geschichte. Vor 40 Jahren, im September 1963, hat die damalige Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) mit der Türkei ein Assoziationsabkommen mit dem Ziel einer späteren EU-Mitgliedschaft abgeschlossen. 1987 (zwei Jahre vor Österreich) stellte die Türkei ihr offizielles Beitrittsgesuch an die EWG. Die Aufnahme von Beitrittsgesprächen oder gar die Nennung eines Beitrittsdatums hat Brüssel bisher vermieden.

Neuer Schwung

Erst seit im Herbst vergangenen Jahres der ehemalige Istanbuler Bürgermeister Erdogan mit seiner gemäßigten Islamistenpartei (AKP) die Parlamentswahl gewann und schließlich auch Regierungschef wurde, ist wieder Bewegung in die türkischen EU-Bestrebungen gekommen. Erdogan veranlasste die Verabschiedung mehrerer Reformpakete in Bezug auf die Verfassung und Rechte für die kurdische Minderheit, die Todesstrafe wurde abgeschafft. Beim EU-Gipfel von Kopenhagen im Dezember 2002, wo die Beitrittsgespräche mit zehn Ländern offiziell abgeschlossen wurden, stellten die EU-Staats- und Regierungschefs der Türkei zwar kein Beitrittsdatum in Aussicht. Festgehalten wurde aber, dass bis Ende 2004 die EU entscheiden werde, ob sie mit dem Land am Bosporus Verhandlungen über eine Mitgliedschaft aufnehmen werde. Wenn ja, sollten die Gespräche noch im Frühjahr 2005 beginnen.

Die EU erwartet von der Türkei nicht nur Reformen auf dem Papier. Sondern: "Entscheidend sind die Implementierung und Umsetzung", bringt es SPÖ-EU-Abg. Hannes Swoboda im Gespräch mit der "Wiener Zeitung" auf den Punkt. Swoboda ist Türkei-Berichterstatter des EU-Parlaments und führt zeitgleich mit Erdogans Wien-Besuch Gespräche mit Vertretern der Parteien, Parlamentarier und Kurden in der Türkei.

Das letzte Reformpaket im Hinblick auf eine EU-Mitgliedschaft möchte die Regierung in Ankara bis Ende Juli beschlossen haben. "Ob das ausreicht, um Ende 2004 über die Aufnahme von Beitrittsgesprächen zu entscheiden, ist schwer zu sagen", meint Swoboda. Skepsis sei angebracht. Es bleibe abzuwarten, ob nicht eine zunehmende Verwischung der Grenzen zwischen Staat und Religion und damit so etwas wie eine "schleichende Islamisierung" einsetzen werde.

Naturgemäß optimistisch ist dagegen Botschafter Balkan. Die beschlossenen Reformmaßnahmen würden in der Türkei von allen Teilen der Gesellschaft mitgetragen, von den Parteien, den nicht-staatlichen Organisationen, der Zivilgesellschaft - und auch vom Militär, beteuert der türkische Spitzendiplomat in Wien. Und setzt auf Österreich als hoffnungsvollen Partner, der den EU-Beitritt der Türkei unterstützen soll. Doch Bundeskanzler Wolfgang Schüssel hatte erst vor wenigen Wochen gemeint, eine Aufnahme der Türkei könne er sich zum jetzigen Zeitpunkt nicht vorstellen. Die ÖVP-EU-Abgeordneten deklarierten sich ebenfalls als "absolut gegen" die Türkei als EU-Mitglied. Der außenpolitische Ausschuss des EU-Parlaments nannte als Bedingungen u.a., das Militär einer zivilen Autorität zu unterstellen, die Menschenrechte anzuwenden und die Zypern-Frage zu lösen. Diesbezüglich sei, so VP-EU-Abg. Ursula Stenzel, die Türkei aber "noch Lichtjahre davon entfernt, die Bedingungen zu erfüllen".