Der ukrainische Historiker Sergey Kudelia glaubt nicht an einen raschen Frieden. Wie aber lauten seine Lösungsansätze?
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Wie sieht Wladimir Putins Plan im Ukraine-Krieg aus? Ist ein rascher Friedensschluss vorstellbar? Wie wird es mit Russland weitergehen? Die "Wiener Zeitung" hat darüber mit dem ukrainischen Historiker Sergey Kudelia gesprochen.
"Wiener Zeitung": Russland hat im Jahr 2014 die Krim annektiert und unterstützt seit dieser Zeit die Separatisten im Donbass. Am 24. Februar hat Russland dann weiter eskaliert. Was ist da passiert?
Sergey Kudelia: Betrachten wir die russische Logik vor der Invasion am 24. Februar: Aus der Perspektive Russlands hat die Bevölkerung der Krim in einem Referendum für den Anschluss an Russland gestimmt. Russland bestritt stets Waffenlieferungen und direkte Unterstützung für die Separatisten und Russland hat auch stets bestritten, dass russische Truppen in den Separatistengebieten aktiv sind. Moskau hat auch immer die Oblaste (Distrikte, Anm.) Donezk und Luhansk als Teil der Ukraine akzeptiert. Seit 24. Februar haben wir nun eine völlig andere Logik in Bezug auf die Ukraine. Vor dem 24. Februar wurde nie formuliert, dass die Ukraine ein legitimes Angriffsziel sei. Seither wird die Ukraine attackiert. Was ist also geschehen? Vor dem 24. Februar war die Strategie, die Ukraine mit Hilfe von Separatisten zumindest zu spalten. Die Separatisten sollten gleichzeitig den Weg der Ukraine in Richtung Westen mühsamer machen. Doch diese Strategie ist gescheitert - und Putin musste das einsehen. Er hat diese Strategie acht Jahre lang versucht. Damals war er 61, heute ist er 69 Jahre alt. Es dämmert ihm, dass er vielleicht keine weiteren zehn Jahre im Kreml mehr hat. Er denkt vielleicht, dass ihm nicht mehr allzu viel Zeit bleibt, seine Ziele zu erreichen.
Putin will also nicht, dass von seiner Ära in Russland übrig bleibt, dass er derjenige war, der die Ukraine für Russland verloren hat?
Ich denke, was er jetzt tut, ist, seine Strategie an die Realität anzupassen. Die Anführer der pro-russischen politischen Parteien - Viktor Medvedchuk und Yuriy Boyko -, die Vertreter der Öl- und Gas-Lobby, versprachen Moskau eine ganze Menge, aber sie konnten ihre Versprechen nicht halten: Sie haben es nicht in die Regierung geschafft. Sie haben es nicht geschafft, auf die öffentliche Meinung Einfluss nehmen zu können - obwohl Präsident Putin Medvedchuk dabei geholfen hat, drei Fernsehsender unter seine Kontrolle zu bringen, die nonstop prorussische Propaganda verbreiteten. Doch auch damit konnte die öffentliche Meinung nicht beeinflusst werden. Putin musste also gedämmert haben, dass all diese Versuche indirekte Einflussnahme ineffizient sind.
Also wählte Putin nun den Weg der direkten Einflussnahme auf das Geschehen: eine Invasion.
Genau. Das erste Ziel war ein Enthauptungsschlag. Die politische Führung in Kiew sollte ausgeschaltet werden - eine prorussische Marionettenregierung sollte übernehmen. Dieser Plan wurde von der ukrainischen Armee vereitelt. Vielleicht hat Putin erwartet, dass Präsident Wolodymyr Selenskyj flieht, so wie der damalige ukrainische Präsident Wiktor Janukowitsch das nach der Maidan-Revolution gemacht hat. Aber Selenskyj ist nicht geflohen - die Regierung blieb handlungsfähig, und zwar nicht nur auf nationaler Ebene, sondern auch auf regionaler Ebene.
Und was, vermuten Sie, ist nun Putins Plan?
Wer weiß das schon? Aber nun sieht es so aus, als möchte der Kreml möglichst viel Territorium an der Peripherie der Ukraine unter die Kontrolle Moskaus bringen, das Asowsche Meer, den Donbass. Die Kontaktlinie verlief bisher ja sehr nahe an den Städten Luhansk und Donezk. Als Putin zum Schluss kam, dass er den ganzen Donbass politisch nicht unter Kontrolle bringen kann, soll nun eben die Kontaktlinie nach Westen verschoben werden. Plus: Wenn der Kreml schon nicht die Zentralmacht in Kiew durch eine Marionettenregierung unter seine Kontrolle bringen konnte, versucht Putin es nun eben zuerst mit der Peripherie.
Gibt es denn Hoffnung auf Frieden?
Nein. Ich denke nicht, dass es in näherer Zukunft ein großes Friedensabkommen geben wird, das den Krieg beendet. Es wird keine Anklänge an das Jahr 1945 geben, als der Krieg zuerst in Europa und dann in Asien quasi über Nacht endlich vorbei war. Wenn, dann gibt es irgendwann eine Chance auf eine Deeskalation entlang einer neuen Kontaktlinie, die im Moment durch Russlands Besetzung im Süden der Ukraine und in Teilen des Donbass gezeichnet wird. Ich befürchte, dass wir in den kommenden Wochen sehen werden, wie weitere Städte im Donbass fallen, vor allem in den Oblasten Donezk und Luhansk.
Wie wird die Ukraine darauf reagieren?
Natürlich wird es Gegenangriffe geben - die gibt es ja bereits jetzt. Präsident Selenskyj steht vor einer schwierigen Entscheidung: Soll die Ukraine einen Waffenstillstand akzeptieren und es gleichzeitig aufgeben, diese Gebiete wiederzuerlangen? Bedeutet das, dass es dort immer wieder zu Feuergefechten kommen wird? Bedeutet das, dass sich entlang dieser Kontaktlinie das wiederholt, was wir schon bisher gesehen haben, nämlich dass ein Konflikt mit niedrigerer Intensität weiterschwelt, vielleicht ohne Luftschläge auf Ziele in der Ukraine außerhalb des Donbass? Und bedeutet das, dass zumindest in Odessa und anderen Städten unter ukrainischer Kontrolle wirtschaftliche Aktivität wiederbelebt werden kann?
Gibt es Hoffnung, dass die Ukraine - wie Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg - einen raschen Wiederaufstieg schaffen und die Industrie modernisieren könnte?
Deutschland bekam nach dem Zweiten Weltkrieg Sicherheitsgarantien. Die Ukraine - so fürchte ich - kann nicht auf solche Sicherheitsgarantien hoffen. In Deutschland gab es eine Zonengrenze und dann die Mauer. Die Situation war einigermaßen berechenbar. Im Falle der Ukraine glaube ich nicht, dass der Westen annimmt, dass die russischen Truppen dort, wo sie jetzt sind, auch bleiben und nicht weiter vorstoßen. Mit anderen Worten: Es gibt keine permanente Teilung, und das Territorium der Ukraine könnte auch nach einem weitreichenden Waffenstillstand erneut Ziel russischer Angriffe werden.
Deutschland scheidet also als Modell für Ukraine-Optimisten aus. Wie sieht es mit dem Modell Israel aus?
Ich denke, dass die politische Führung unter Präsident Selenskyj ein Israel-Modell vor Augen hat. Zumindest, wenn es um die Organisation des Staates geht. Denn die Ukraine wird sich nach dieser Invasion zum Beispiel nicht denselben Grad an bürgerlichen Grundfreiheiten leisten können. Mit anderen Worten: In den Medien wird es Zensur geben, es wird auch gewisse Restriktionen für politische Parteien - vor allem für prorussische Parteien - geben. Wobei ich mir ehrlich gesagt auch nicht vorstellen kann, dass diese Parteien in der Ukraine heute noch auf Unterstützung hoffen können. Ich denke, dass der ukrainische Präsident in Zukunft eine größere Machtfülle bekommen wird.
Das Sicherheitsdilemma wurde nach dem Angriff auch für Russland größer. Denn Nato und EU sind geeint, eine Hoffnung auf einen neutralen Gürtel zwischen Europa und Russland gibt es nicht mehr, seit Finnland und Schweden über einen Nato-Beitritt nachdenken.
Die Neutralität ist auch für die Ukraine keine Lösung mehr - vor dem russischen Angriffskrieg vom 24. Februar wurde es von den politischen Eliten in Kiew leider zu wenig verfolgt. Stattdessen hat man sich darauf verlassen, dass schon das Versprechen einer möglichen Nato-Mitgliedschaft Schutz bietet.
Sie sind Befürworter einer Neutralität?
Nun ja: Der Vergleich etwa mit der österreichischen Neutralität bringt nichts. Die Sowjets haben Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg nie als ihre Heimat betrachtet. Österreich sollte nach dem Willen der UdSSR nie der Nato beitreten, aber es gab gleichzeitig keinerlei Hoffnung in Moskau, dass Österreich ein Satellitenstaat werden könnte. Im Fall der Ukraine beansprucht Russland nun ukrainisches Territorium und betrachtet zumindest Teile der ukrainischen Gesellschaft als Teil des eigenen Volkes. Ein ukrainisches Neutralitätsmodell hätte bedeuten müssen, dass man Teilen der Ukraine weitreichende Autonomie zugesteht. Vor der Invasion wäre so etwas vielleicht möglich und vorstellbar gewesen. Aber jetzt? Völlig undenkbar. Dieser Weg ist versperrt.
Wie soll es mit Russland und in diesem Krieg weitergehen?
Ohne westliche Vermittlung - und da zähle ich jetzt das Nato-Mitglied Türkei dazu - wird es nicht gehen. Die Türkei ist ein guter Vermittler, weil Putin Präsident Recep Tayyip Erdogan als gleichwertiges Gegenüber begreift. Aber die Face-to-Face-Verhandlungen müssen auf eine höhere Ebene gehoben werden. Und es wird eine stärkere Beteiligung westlicher Partner brauchen.
Sie haben die Aussagen von Österreichs Außenminister Alexander Schallenberg zur ukrainischen EU-Perspektive beim Mediengipfel in Lech am Arlberg heftig kritisiert.
Ja. Viele in der Ukraine haben den Verdacht, dass einige Vertreter der politischen Eliten in Österreich von ihren engen geschäftlichen Verbindungen zu Russland profitieren könnten. Viele halten auch manche Politiker in Österreich für korrupt - es gab ja Skandale um die Partei, zu der die frühere Außenministerin gehört hat, die vor allem für ihren Knicks vor Putin bekannt ist. Die Ukraine würde sich von Österreich mehr Solidarität wünschen. Die Aussagen des Außenministers nähren den Verdacht, dass die politischen Eliten in Österreich den EU-Beitritt der Ukraine aus Eigeninteresse blockieren. Aber ich habe ja gehört, dass Österreich den Widerstand gegen das Ölembargo nicht aufrechthält, vielleicht ist es ja mit dem EU-Beitrittswunsch der Ukraine auch so.
Zur Person~ Sergey Kudelia ist Gastdozent für Geschichte an der Universität Basel und Professor an der Baylor University in Waco (Texas). Sein Hauptforschungsgebiet liegt derzeit vor allem auf dem Konflikt in der Ukraine. Er war Gast beim Europäischen Mediengipfel in Lech/Arlberg.