Tumulte rund um Änderung des "Türkentum"-Paragrafen. | Verbotsverfahren gegen AKP setzt Erdogan unter Druck. | Istanbul. (apa) Die Stimmung ist gereizt. Im türkischen Parlament gingen Abgeordnete der konservativ-islamischen Regierungspartei AKP auf einen parteilosen Politiker los und konnten nur mit Mühe von Kollegen daran gehindert werden, ihn zu verprügeln. Im Rechtsausschuss protestierte die Opposition am Freitag so energisch gegen eine Änderung des berüchtigten "Türkentum"-Paragrafen 301, dass im Eifer des Gefechts ein Sicherheitsbeamter geohrfeigt wurde.
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Seit der Eröffnung des Verbotsverfahrens gegen die AKP kann in Ankara von einem normalen politischen Betrieb nicht mehr die Rede sein. Nach Presseberichten will AKP-Chef und Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan die Krise möglicherweise durch eine Flucht nach vorne überwinden: vorgezogene Parlamentswahlen, die schon Ende Juni stattfinden könnten, nur elf Monate nach der letzten Wahl.
Die Zeitung "Sabah" zitierte einen namentlich nicht genannten Minister der Erdogan-Regierung mit den Worten, vorgezogene Neuwahlen seien der einzige Ausweg. Die Opposition im Parlament werde der AKP nicht dabei helfen, kurzfristig Regelungen zu verabschieden, die Parteiverbote erschweren und die Regierungspartei retten würden. Ein neuer Wahlsieg der AKP dagegen werde großen öffentlichen Druck gegen ein Verbot der Partei schaffen.
Der AKP-Politiker Salih Kapusuz erklärte, er habe der Parteiführung eine vorgezogene Neuwahl empfohlen. Als Termin nannte Kapusuz den 29. Juni.
Von Erdogan selbst lag kein Kommentar zu dem Thema vor.
Der Journalist und AKP-Kenner Rusen Cakir bezeichnete die Berichte als "Gehirngymnastik" - wenig realistische Gedankenspiele. Allerdings hatte Erdogan die Taktik der vorgezogenen Neuwahl bereits im vergangenen Jahr mit Erfolg angewandt. Nachdem die Wahl seines damaligen Außenministers Abdullah Gül am Widerstand der Opposition und des Verfassungsgerichts gescheitert war und die Armee auch noch mit einem Putsch drohte, ließ Erdogan am 22. Juli wählen und erzielte mit fast 47 Prozent für seine AKP einen historischen Erfolg. Gül wurde vom neuen Parlament zum Präsidenten gewählt, die Militärs beugten sich.
Zumindest einige aktuelle Umfragen legen nahe, dass die AKP aufgrund der derzeitigen Anfeindungen des kemalistischen Lagers, das sich auf Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk beruft und die AKP für islamistisch hält, bei einer Neuwahl mit noch größerer Unterstützung rechnen könnte als im letzten Juni. Andere Befragungen fallen für die AKP weniger günstig aus. Auch das abgeschwächte Wirtschaftswachstum und die steigende Arbeitslosigkeit könnten für Erdogan zu Problemen werden.