Zum Hauptinhalt springen

Die Türkei wird destabilisiert und stärker polarisiert

Von Frank Nordhausen

Kommentare

Wird das Nato-Land Türkei zur Diktatur, kann man mit bürgerkriegsähnlichen Unruhen rechnen.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 8 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Das Volk in der Türkei hat gesiegt und die Putschisten davongejagt. Aber es waren das verhasste Internet und die giftig bekämpften sozialen Medien, derer sich der bedrängte Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan in höchster Bedrängnis bediente.

Der Onlinedienst Facetime ermöglichte es ihm, sich direkt an die Bevölkerung zu wenden, um sie im Fernsehen zu Hilfe zu rufen. Die weltweite Solidarität eröffnete dem Autokraten zugleich die Chance, sich international als Demokrat zu rehabilitieren und da anzuknüpfen, wo er vor 13 Jahren einmal als Ministerpräsident begonnen hatte: als Reformer und Neuerer, der die Türkei in eine demokratischere Zukunft führt. Für genau jenen "Sieg der Demokratie", von dem der Ministerpräsident Binali Yildirim nach dem abgewehrten Putsch so enthusiastisch sprach.

Erdogan hat die Chance nicht ergriffen. Im Gegenteil: Als in Ankara noch geschossen wurde, rollten bereits die ersten Verhaftungs- und Säuberungswellen in der Türkei. Bis zum Sonntag wurden rund 6000 angebliche Putschisten und Terroristen festgenommen – aber es wurden auch ein Fünftel aller Richter suspendiert sowie Haftbefehle für mehr als 2 400 Richter und Staatsanwälte ausgestellt, darunter Verfassungsrichter. Keine Verwaltung kann Beweise gegen so viele Menschen in so kurzer Zeit sammeln. Es ist offensichtlich, dass Regierung oder Präsidialverwaltung schwarze Listen in der Schublade hatten, die jetzt abgearbeitet werden.

Ohne die geringsten Belege machen sie die Bewegung des in den USA lebenden Islampredigers und Erdogan-Erzfeindes Fethullah Gülen für den versuchten Staatsstreich verantwortlich und gehen deshalb auch gegen alle vor, die der in der Türkei als Terrororganisation geführten Bewegung nahe stehen.

In diesem Licht ergibt es Sinn, dass Erdogan den Militärputsch als "Geschenk Allahs" bezeichnete – denn er ermöglicht es ihm, jetzt mit Gegnern aufzuräumen und unliebsame Kritiker loszuwerden, um seinem Ziel einer Präsidialdiktatur näherzukommen. Das verstößt gegen die türkische Verfassung und natürlich auch gegen die EU-Beitrittskriterien. Es ist ein Schlag gegen die unabhängige Justiz. Man muss es so deutlich beim Namen nennen: Was Erdogan hier inszeniert, ist ebenfalls ein Umsturz – ein ziviler Putsch des Präsidenten.

Der Boss vom Bosporus denkt gar nicht daran, Schritte zur gesellschaftlichen Versöhnung zu unternehmen. Die jungen Putschoffiziere sind nur ein Symptom der fortschreitenden politischen und sozialen Polarisierung in der Türkei und der Schwäche ihrer Institutionen. Liberale und linke türkische Kommentatoren haben Erdogans Kurs der vergangenen zwei Jahre immer wieder mit der Machtergreifung Hitlers in Deutschland verglichen. Tatsächlich gibt es frappierende Parallelen: die Gleichschaltung der Medien, des Sicherheitsapparates und der Justiz, getragen von der Zustimmung einer aufgeheizten Anhängerschaft. Säuberungen in der Bürokratie und Verhaftungen. Die fortschreitende Einschränkung der Grundrechte.

Es ist das Schema jeder autokratischen Machtübernahme. Bei Erdogan lief er bislang ab wie in einer Zeitlupe, die sich zunehmend beschleunigte. Jetzt könnte der Umschlagpunkt erreicht sein, an dem er jede Zurückhaltung verliert. Für die Türkei bedeutet das nichts Gutes. Das Menetekel an der Wand sind die mutmaßlichen Lynchmorde eines entfesselten islamistischen Mobs in Istanbul an Soldaten, die sich bereits ergeben hatten. Inzwischen werden aus vielen Orten des Landes auch gewaltsame Übergriffe islamistisch-motivierter Gruppen auf Kurden und Alewiten gemeldet. Wohin soll das führen?

Während die Justiz beschnitten wird, wird die Bewegungsfreiheit für Islamisten größer. Den Mob als Einschüchterungsinstrument nutzen und zugleich kontrollieren zu können, das aber ist eine gefährliche Illusion, die schon beim Umgang mit IS-Kämpfern in Syrien gescheitert ist, denen die Türkei als Rückzugsraum offenstand.

Aber Erdogan scheint sein persönlicher Machterhalt wichtiger zu sein als Stabilität und Sicherheit der Türkei. Die erfolgreiche Abwehr des Militärputsches lässt ihn im Moment stark erscheinen, und so könnte er versuchen, bald Neuwahlen auszurufen, um die Gunst der Stunde zu nutzen und sich eine verfassungsändernde Mehrheit für das exekutive Präsidialsystem zu sichern. Ebenso möglich ist, dass er die Polarisierung im Land weiter verschärft, um das Kriegsrecht einzuführen. Im kurdischen Südosten des Landes ist es längst Tatsache.

Die De-facto-Abschaffung der unabhängigen Justiz und damit der Gewaltenteilung verschärft die Spannungen, statt sie zu mildern. Langfristig wird Erdogan das Land damit weiter destabilisieren, denn all das ist Gift für die Wirtschaft und die dringend benötigten Direktinvestitionen. So positiv es ist, dass der Militärputsch scheiterte, so klar hat er die tiefe Krise der Demokratie in der Türkei offengelegt, die inzwischen sogar auf das Militär übergreift. Das ist höchst besorgniserregend. Wird das Nato-Land Türkei zur Diktatur, kann man mit bürgerkriegsähnlichen Unruhen rechnen.