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Spätestens seit dem Anbruch des digitalen Zeitalters gibt es im US-Journalismus kaum noch Gesetze, fest- wie ungeschriebene; mittlerweile darf alles, was geht, ungeachtet des Wahrheitsgehalts. Wer das nicht glaubt, schalte Fox News ein oder schlage beim Drudge Report oder bei minder populären, aber einflussreichen Blogs wie Breitbart.com oder RedState.com nach.
Insofern scheint es überraschend, dass es zumindest noch eine Regel gibt, eine letzte inoffizielle Norm, an die sich der mediale Mainstream wie die ideologisch verbrämten Nachrichtenvertreiber bis heute halten. Aus gänzlich unterschiedlichen Motiven, aber trotzdem: Dass die sogenannte "Goldwater-Regel" bis heute von niemandem verletzt wird, darf angesichts der ansonsten so gnadenlosen wie teilweise offen menschenverachtenden Berichterstattung mancher US-Medien durchaus als Erfolg gelten.
Die Regel, benannt nach dem Präsidentschaftskandidaten der Republikanischen Partei im Jahr 1964 - der ersten Wahl nach der Ermordung John F. Kennedys -, wurde im selben Jahr von der American Psychiatric Association erfunden, der Standesvereinigung der US-Psychiater. Ihre Einführung war die Reaktion auf eine im längst verblichenen Politmagazin "Fact" veröffentlichte Umfrage unter den Mitgliedern der American Psychiatric Association, die eine professionelle Meinung zur Person Barry Goldwaters abgeben sollten. "Abartig" lautete damals noch das harmloseste Urteil, "paranoid-schizophren" der allgemeine Konsens der Seelenklempner über dessen Geisteszustand.
Unter anderem wurde Goldwater, einem strengen Anti-Kommunisten und entschiedenen Gegner der rechtlichen Gleichstellung von Afroamerikanern, angedichtet, dass er unbewusst seinen jüdischen Vater hasse und darunter leide, als Kleinkind einem "zu strengen Toilettentraining" unterworfen gewesen zu sein. Nachdem die Geschichte erschienen war, ließ die American Psychiatric Association ihre Mitglieder wissen, dass sie derlei künftig zu unterlassen hätten, so sie ihre Zulassung nicht gefährden wollten; derartige Meinungsäußerungen seien schlicht "unethisch".
Auch wenn bis heute keiner mehr von denen, die fürs Weiße Haus kandidieren, vor psychiatrischen Ferndiagnosen Angst haben muss, die dann in der Öffentlichkeit breitgetreten werden: Der Preis, den er oder sie dafür bezahlt, ist nach wie vor extrem hoch. Wer ganz im Ernst Präsident des mächtigsten Landes der Welt werden will - zu den weniger beziehungsweise gänzlich Unernsten, die es auch zuhauf gibt, später -, muss Strapazen auf sich nehmen, die an und für sich weit über jede menschliche Belastbarkeitsgrenze hinausgehen.
Er oder sie muss sich schon im Vorfeld Geldgeber suchen, die einem jenen langen Atem verschaffen, den ein immer kostenintensiver werdender Wahlkampf erfordert. Er oder sie muss sich bei Lokalpolitikern, Abgeordneten und Senatoren einschleimen, in der Hoffnung, dass sie eine parteiinterne Wahlempfehlung abgeben. Und nicht zuletzt muss er oder sie mindestens eineinhalb Jahre lang kreuz und quer durchs Land reisen, um sich den potenziellen Wählerinnen und Wählern zu stellen, sich ihre wahren (selten) und gefühlten (öfter) Sorgen, Nöte und Anliegen anzuhören. Von den abertausenden Interviews, Stellungnahmen und Wortspenden zu immer neuen aktuellen Anlässen gar nicht zu reden, die sich die moderne Medienmaschinerie erwartet und deren Bandbreite von der kleinen, aber einflussreichen Lokalzeitung von Des Moines, Iowa, bis zur landesweit ausgestrahlten Late-Night-Show aus New York City reicht. Ausrutscher darf er oder sie sich dabei kein einziges Mal leisten, wenn er sich nicht noch in derselben Minute zum Gespött der riesigen und politisch immer wichtiger werdenden Internet-Gemeinde machen will.
Bedenkt man, dass die bisherige Aufzählung nur das absolute Pflichtprogramm darstellt, scheinen Fragen wie diese mehr als berechtigt: Wie muss ein Mensch gebaut sein, der sich das alles und noch viel mehr antut? Nur um als Dank dafür den stressigsten Job der Welt zu bekommen? In einem Land, in dem rund drei Viertel der Menschen glauben, dass Politiker prinzipiell keine vertrauenswürdigen Zeitgenossen sind? Hier der Versuch einer Typologisierung der in den USA auftretenden Spezies des Homo praeses:
Der Narziss.
Bei der Frage nach der Motivation von Kandidatinnen und Kandidaten, die neu in der Politik sind, die gern zu Beginn von Debattenrunden gestellt wird, antworten diese verlässlich mit den in den USA üblichen Floskeln und Formeln: Es sei eine Ehre, dem eigenen Land und seinen Bürgerinnen und Bürgern zu dienen, und - egal, welchen Beruf man ausübt oder ausgeübt hat - man sei schon allein kraft der durch den jeweiligen Job erworbenen Fähigkeiten bestens dafür geeignet, das Land zu führen.
Von den zahlreichen anderen, durchwegs positiven Eigenschaften kaum zu schweigen. Derlei Drang, sich von der Extrem-Schokoladenseite zu zeigen, gehört in den USA nicht nur zum alltäglichen politischen Handwerk, sondern ist im Fall der heutigen Polit-Newcomer oft ganz und gar ernst gemeint. "Sich selbst zu lieben ist der Beginn einer lebenslangen Romanze", wusste schon Oscar Wilde. Anders als bei der Demokratischen Partei, in der sich mit Stand Ende 2015 drei Berufspolitiker um die Nominierung zum Kandidaten matchen (Ex-Außenministerin Hillary Clinton, Senator Bernie Sanders und Ex-Gouverneur Martin O’Malley), tritt die Spezies der Extrem-Narzissen heuer vermehrt bei der "Grand Old Party", den Republikanern, auf. Von den Leuten, die sich dort um die Stimmen der Delegierten bewerben, tragen nicht wenige ihren Narzissmus offen vor sich her - und er gereicht ihnen nicht zum Nachteil.
Zum Beispiel Donald Trump, dem mittlerweile realistische Chancen eingeräumt werden, die Nominierung zu gewinnen: Seit Bekanntgabe seiner Kandidatur tut der Immobilienhai - außer Latinos, Schwarze, andere Kandidaten und ganze Religionen zu beleidigen - nichts anderes, als seinen Landsleuten zu erzählen, dass es praktisch kein Problem auf der Welt gäbe, dass sich nicht allein dadurch lösen ließe, ihn zum Präsidenten zu wählen.
Jeder, der Trump schon einmal live erlebt beziehungsweise sich länger mit seiner Person auseinandergesetzt hat, weiß, dass er das wirklich selber glaubt. Ebenso wie Ben Carson, eine pensionierte Koryphäe der Gehirnchirurgie, der Trump in Sachen Populismus wie in der Selbstverliebtheit in nichts nachsteht. Weil sein Problem, praktisch nichts, aber auch wirklich gar nichts zu wissen, was nicht mit seinem medizinischen Spezialgebiet zu tun hat, aber noch ausgeprägter ist als bei Trump (Carson glaubt zum Beispiel, Thomas Jefferson habe an der US-Verfassung mitgeschrieben, die Pyramiden von Gizeh seien als Kornspeicher gedacht gewesen und der Gazastreifen werde von "Hummus" regiert), ist sein Stern mittlerweile im Sinkflug begriffen.
Abgerundet wird die Runde der narzisstischen Quereinsteiger von Carly Fiorina, die einst als erste Frau einem High-Tech-Konzern vorstand (Hewlett-Packard, 1999 bis 2005). Eine Rolle, die sie heute ihrer Meinung nach unter anderem dazu befähigt, Wladimir Putin und die Mullahs in Teheran in die Schranken zu weisen, bevorzugt mit Waffengewalt. Ob die extrem ausgeprägte Selbstliebe als alleinige Triebfeder für den ultimativen Erfolg, die Nachfolge Barack Obamas, ausreicht, darf bezweifelt werden.
Der Missionar.
Bernie Sanders ist im Grunde ein ganz normaler Sozialdemokrat westeuropäischen Zuschnitts. Im US-Kontext freilich, wo das Wort "Sozialismus" von der politischen Reaktion immer noch mit Stalin gleichgesetzt wird, hat es der Senator außerhalb von Vermont traditionell schwer. Was ihn nicht davon abhält, einen de facto aussichtslosen Kampf gegen die Übermacht der "Clinton Machine" zu führen. Auch wenn er sich den Wählern, mutmaßlich selber überrascht von einer bescheidenen, aber signifikanten Euphoriewelle, die ihn durchs Land trägt, mittlerweile als ernsthafte Alternative zum von der Frau des Ex-Präsidenten personifizierten Partei-Establishment empfiehlt, machte er schon im Vorfeld der Bekanntgabe seiner Kandidatur klar, warum er antritt: "Um Themen zu setzen, die sonst untergehen. Um Wege aufzuzeigen, die im Medien-Mainstream keinen Platz haben."
Tatsächlich ist Sanders, ein 1941 in Brooklyn, New York, geborener Sohn polnisch-jüdischer Einwanderer, alles andere als ein Idealist, sondern ein ausgewachsener Politprofi. Als solcher weiß er, wie viel ungleich mehr Aufmerksamkeit einem Politiker zuteil wird, der sich ums Weiße Haus bewirbt; und weil seine ureigenen Themen - Verteilungsgerechtigkeit (Stichwort Occupy Wall Street) und Bürgerrechte für Minderheiten (Stichwort Black Lives Matter) - im vergangenen halben Jahrzehnt die öffentliche Diskussion im Land bestimmt haben wie kaum andere, sah er die Zeit gekommen, seine Agenda endlich einmal auf einer großen Bühne voranzutreiben.
Mit Abstrichen trifft das auch auf Rand Paul zu. Der Sohn von Ron Paul, dem jahrzehntelangen Bannerträger des orthodoxen Libertarismus im US-Kongress, sticht aus der republikanischen Kandidatenschar insofern heraus, als er als Einziger die Sinnhaftigkeit der elektronischen Massenüberwachung durch die NSA und die Auslandsengagements des Militärs in Frage stellt. Wie dem Vater geht es Rand Paul bei seinen im Don-Quixote-Stil geführten Kampagnen kaum um die Suche nach einer realen Mehrheit. Die Pauls wollen die Republikaner langfristig verändern: weg von der interventionistischen, sämtliche noch verbliebenen Privatheitsrechte der Bürger abschaffen wollenden Partei, hin zu einem nach innen ultralibertären und nach außen streng isolationistischen Kurs.
Der Fundi.
Zu jeder Zeit gab es auf beiden Seiten des politischen Spektrums der USA Kandidaten für das höchste Amt im Staat, die sich zuallererst dadurch auszeichneten, dass sie eine streng ideologisch geprägte Politik verfolgten. Der Unterschied zum 20. Jahrhundert, als etwa bei den Demokraten der Pazifist Eugene McCarthy (in den 1960ern und 1970ern) und bei den Republikanern der baptistische Prediger und Rechtsausleger Pat Robertson (in den 1980ern) das jeweilige Partei-Establishment aufzumischen suchten, besteht darin, dass dieser Kandidatenschlag heute in den Reihen Letzterer schon rein quantitativ die Mehrheit bildet.
Auch wenn mit Scott Walker und Bobby Jindal zwei davon bereits früh aus dem Rennen schieden: Im Gegensatz zu damals, als solche Leute nur als die Repräsentanten von lauten Minderheiten wahrgenommen wurden, deren politischer Einflussbereich begrenzt war, kommen die heutigen konservativen Fundamentalisten als erfahrene Gouverneure (Walker in Wisconsin, Jindal in Louisiana, Mike Huckabee in Arkansas) und Senatoren daher (Ted Cruz in Texas, Rick Santorum in Pennsylvania, Lindsey Graham in South Carolina).
In ihren jeweiligen Heimat-Bundesstaaten haben sie ihre erzkonservative Ideologie, der ein Sozialdarwinismus reinsten Wassers zugrunde liegt - vollständige Entmachtung der Gewerkschaften, Abschaffung aller möglichen Sozialhilfen, Diskriminierung von Frauen, die abtreiben wollen, Privatisierung des öffentlichen Schulsystems et cetera -, nahezu vollständig politisch implementiert beziehungsweise befördert, während sie auf Bundesebene danach trachten, alle Gesetze zu torpedieren, die ihr zuwiderlaufen.
Nicht wenige von ihnen sehen sich von Gott (dem christlichen) persönlich ausersehen, diese vermeintlichen Segnungen nun dem ganzen Land teilwerden zu lassen. Was manchen beim Rennen ums Weiße Haus nicht zum Vorteil reicht: Walker und Jindal mussten nicht zuletzt deshalb vorzeitig aufgeben, weil ihre Popularitätswerte in ihren Bundesstaaten nach jeweils rund zwei Legislaturperioden im Keller sind. Der einzige Fundi, der realistische Chancen auf die Nominierung seiner Partei hat, ist Ted Cruz, die Lichtgestalt der Tea-Party-Bewegten. Im Kampf ums Weiße Haus gilt er indes als ebenso wenig mehrheitsfähig wie Donald Trump.
Der Pragmatiker.
Die Repräsentanten dieser Gruppe sind prinzipiell mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die, die sich am Ende durchsetzen: Sie wollen regieren und verändern, aber nicht auf Biegen und Brechen; sie sind allesamt Politprofis und wissen dementsprechend, wann sie zurückstecken müssen und wann sie nicht die ganze Wahrheit sagen dürfen.
Wenn nicht noch wider Erwarten Haarsträubendes passiert, gilt die Nominierung von Hillary Clinton bei den Demokraten als ausgemachte Sache. Die 68-Jährige bringt alles mit, was sie zum Ausfüllen des Amtes befähigt: langjährige Erfahrung in der Innenpolitik durch ihre acht Jahre als Senatorin von New York, internationale durch ihre vier Jahre als Außenministerin in Obamas Regierung und, nicht zuletzt, als Ehefrau von Ex-Präsident Bill Clinton, der in den 1990ern trotz heftigem Gegenwind aus dem Kongress und selbstverschuldeten Privataffären zwei Amtsperioden bewältigte. Wie sich gerade erst wieder in den öffentlichen Debatten erweist, ist Hillary Clinton ideologisch flexibel, hat aber immer noch genug Appeal, um die von Sanders aufgescheuchte Basis zu befrieden.
Bei den Republikanern finden sich die Pragmatiker dagegen in der Defensive. Vor gar nicht langer Zeit glaubten viele professionelle Beobachter noch, dass Jeb Bush Clintons logischer Gegner sein würde. Ausgestattet mit dem Namen einer alteingesessenen Politdynastie und dementsprechend Abermillionen an Sponsorengeld sowie mit einer beeindruckenden Biografie - erfolgreicher Geschäftsmann, populärer Gouverneur eines großen Bundesstaats (Florida) -, schien sein Weg zur Nominierung quasi vorgezeichnet. Weil seine Partei ihren Wählern aber in den vergangenen acht Jahren jede einzelne Tat Obamas als Untergang des Abendlandes verkaufte, passen gestandene Politiker wie Jeb Bush jr. nicht mehr ins Anforderungsprofil der Basis.
Auch Rick Perry, langjähriger Gouverneur des nach Kalifornien zweitgrößten Bundesstaats Texas, hat deshalb bereits aufgegeben. Ein ähnliches Schicksal droht mittlerweile auch den anderen Pragmatikern in der Partei: Chris Christie, als Gouverneur von New Jersey vor vier Jahren noch als unförmiges, aber effektives Allheilmittel gegen Obama in Stellung gebracht, grundelt in den Umfragen; ebenso wie John Kasich, Gouverneur des wichtigsten "Swing State" von allen, Ohio. Von der Gruppe der Pragmatiker ist Marco Rubio, Senator von Florida und so etwas wie die letzte Hoffnung des Parteiestablishments, noch am besten positioniert. Aber auch er kommt bisher nicht vom Fleck.
Angesichts der Bedrohung durch Trump, Cruz und Co. diskutieren die Parteigranden sogar jetzt schon über die Möglichkeit einer "Brokered Convention", bei der die Entscheidung erst am Treffen aller Parteidelegierten selber fällt. Der Parteitag der Republikaner findet von 18. bis 21. Juli in Cleveland, Ohio statt.
Das Rätsel.
Last but not least: George Pataki ist der Ex-Gouverneur von New York, Martin O’Malley der von Maryland. Jim Gilmore war einmal vier Jahre lang Gouverneur von Virginia. Es gibt keinerlei auch nur halbwegs vernünftige Erklärung dafür, warum sich diese Leute ums Präsidentenamt bewerben.
Was fix ist: Wenn am 8. November 2016 in Washington D.C. das Ergebnis des Rennens ums Weiße Haus veröffentlicht wird, dürfte das insgesamt fünf Milliarden Dollar verschlungen haben. Mindestens.
Um Präsident der USA zu werden, muss sich ein Mensch allerhand antun - und ja, ein bisschen verrückt sein. Was treibt Donald Trump, Hillary Clinton und Co. an?