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Die Übriggebliebenen

Von Christoph Rella

Reflexionen
In Ottenschlag wohnen nur noch 1000 Personen
© Rella

Kein Auto, keine Nahversorgung, keine Ansprache. Trotz steigender Lebensqualität leiden gerade in Abwanderungsgemeinden viele ältere Menschen unter Versorgungsengpässen und Vereinsamung. Ein Lokalaugenschein in zwei Landgemeinden.


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"Ich hätte eine schöne Wohnung in Neuberg bekommen, aber ohne Auto ist das unmöglich." Friederike H. sitzt in der Küche ihrer 70 Quadratmeter großen Wohnung in einer Siedlung am Stadtrand von Mürzzuschlag. Seit sie in Pension ist, weiß die 57-Jährige die Lage ihres Heims noch mehr zu schätzen. "Was ich brauche, habe ich gleich hier in der Nähe. Auch die Ämter im Stadtzentrum sind mit dem Fahrrad leicht zu erreichen", sagt sie und schenkt etwas Kaffee nach. Ein Leben in der 1328 Einwohner zählenden Nachbargemeinde Neuberg an der Mürz hätte der früheren Unternehmerin schon gefallen, wenn da nicht die weiten Distanzen wären. "Es gibt nur wenige Busse, die Eisenbahn wurde schon vor Jahrzehnten aufgelassen", erzählt die Pensionistin. Und ein Taxi leisten wolle sie sich auch nicht. Kostenpunkt: Rund 21 Euro.

Die 12 Kilometer lange Bundesstraße 23 zwischen der Bezirkshauptstadt Mürzzuschlag und der Ortschaft Neuberg am Oberlauf der Mürz ist gut ausgebaut. Das landschaftlich schöne Tal wird durch den Roßkogel im Süden und die Schneealpe im Norden begrenzt. Autos fahren nur wenige. Seit der letzten Volkszählung 2001 ist die Bevölkerungszahl stark zurückgegangen: Demnach beträgt das Abwanderungsminus laut Landesstatistik Steiermark 13,4 Prozent. Im Ort zurück bleiben die Alten. Mit einem Durchschnittsalter von 48 Jahren liegt Neuberg in der Statistik der ältesten Gemeinden der Steiermark auf dem siebenten Platz. Jeder Dritte hier ist über 60 Jahre alt.

Leben ohne Post

In der Ferne ragt das ehrwürdige Münster der im Jahr 1327 von Herzog Otto dem Fröhlichen gestifteten Zisterzienserabtei in den Himmel. "Mönche leben in dem Kloster schon lang keine mehr", sagt eine Kundin, die im Neuberger "Café am Platzl" Brot und Semmeln einkauft. Auf die Frage, wie es den Senioren heute in der Gemeinde geht, meint die 60-Jährige: "Für alte Leute ist es schon schlimm, wenn ich denke, wie viele Geschäfte es früher gab. Die meisten haben aber schon in den 70er Jahren zugesperrt." Früher seien auch noch mehr Kinder in den Kindergarten gegangen, sagt sie. "Wir hatten einmal 50 Kinder, jetzt sind es nur noch 30."

"Es wird langsam immer weniger", wirft die Verkäuferin ein und nennt die Schließung des Postamtes als Beispiel. "Viele ältere Leute sind oft Mindestpensionisten und haben kein Auto, um in die nächste Filiale zu fahren", meint sie. Und: "Wenn weiter alles zentralisiert wird, bleibt unser Tal über."

Am Nebentisch sieht ein Mann mit weißem Bart von seiner Zeitung hoch. "Das Postamt ist doch eh ein Unfug, wer braucht das schon?", erklärt er den verdutzten Damen. Vor allem aber störe ihn die Argumentation, mit der versucht wurde, die Filiale zu retten. "Die Leute haben ja behauptet, das Postamt sei ein Kommunikationszentrum, aber das stimmt doch nicht." Geht es nach ihm, wäre es viel sinnvoller, die Verkehrsverbindungen auszubauen und in Projekte für Senioren wie "Betreutes Wohnen" oder "Essen auf Räder" zu investieren. Abgesehen davon sei das Leben in Neuberg gar nicht so schlecht. "Ich fühle mich hier sehr wohl, die Natur ist schön und auch die Luft gut", fügt der 69-jährige pensionierte Eisenbahner hinzu.

Hotel geschlossen

Die reine Luft war auch der Grund, warum Investoren hier den "Gesundheitshof Neuberg", ein Wellness- und Mayrkurhotel für vorrangig ältere Menschen, errichteten. Das Gebäude ist auffällig, weil im Hunderwasserstil gebaut. Das Problem dabei nur: Friedrich Hundertwasser wusste nichts davon. Es kam zu einem Rechtsstreit, 2009 wurde das Hotel geschlossen. Seit dem Vorjahr ist es als "Stiftshof" wieder in Betrieb. Wie lange, kann niemand sagen.

Wie lange es in der Gemeinde noch eine Bank, einen Arzt oder Greißler geben wird, weiß auch der Neuberger Bürgermeister Peter Tautscher nicht. "Die Jungen sind arbeitsmäßig nicht so gut bedient, 80 Prozent der Berufstätigen pendeln", sagt er im Gespräch mit dem "Wiener Journal". Sein Büro im Gemeindeamt ist klein gehalten, an den Wänden hängen Landkarten zur Geologie und Flächennutzung des Mürztales. Baugründe scheinen zur Genüge vorhanden.

Und wie geht es den älteren Menschen? "Wir sind schon eine sehr veraltete Gemeinde", gibt Tautscher zu. Für diejenigen, "die nicht weg können", will der Bürgermeister daher günstige Wohnplätze mit Altenbetreuung anbieten. Die Gemeinde habe bereits Gründe angekauft.

19 Begräbnisse

Auch wenn sich die meisten Senioren gegen eine "Abschiebung ins Heim" wehren, so bietet zumindest die hohe Nachfrage nach Altenbetreuern der jüngeren Generation Arbeitsplätze. Das weiß auch die Gemeindeführung der 1000 Einwohner zählenden Ortschaft Ottenschlag im niederösterreichischen Waldviertel. Denn auch sie kämpft wie Neuberg seit Jahren gegen Abwanderung und Überalterung - teilweise mit Erfolg, wie die Errichtung eines Stützpunktes für das "Hilfswerk" und des Gesundheitszentrums "Lebens.Resort" beweisen.

"Beide Institutionen bieten rund 180 Menschen Arbeit", erklärt Bürgermeisterin Christa Jager stolz, als sie durch die Fluchten des Gemeindeamtes führt. Eine Tafel im Sekretariat gibt über die vergangenen Todesfälle in Ottenschlag Auskunft. Drei sind es seit Jahresbeginn. Geburten sind keine ausgehängt.

"Im letzten Jahr war es sehr extrem", sagt Jager rasch im Vorbeigehen. "2010 hatten wir 19 Begräbnisse, aber nur drei Geburten." Geht es nach ihr, so soll die Geburtenrate wieder bald steigen. Zumal es ja um Ottenschlag im Grunde gar nicht so schlecht bestellt sei. Zwar habe man das Gericht und die Bauernkammer verloren, dafür seien die meisten übrigen wichtigen Einrichtungen - darunter Schulen, Post, Banken, Apotheke oder Polizei - noch erhalten, betont die Ortschefin. Sogar einen Flugplatz gibt es hier.

Arbeitsplatz Hilfswerk

Besonders stolz ist Jager auf das Hilfswerk, das in der nahen Florianigasse angesiedelt ist. Von Ottenschlag aus werden mehr als 100 Kunden in insgesamt zehn Gemeinden betreut. "Die meisten Menschen wollen zu Hause alt werden und nicht ins Heim", erzählt die Leiterin des Hilfswerkes, Beate Grüner-Heidl. Und: "Es werden immer mehr." Ein großes Problem stelle vor allem die Vereinsamung der älteren Generation dar, die alleine lebt und nur selten Besuch von Verwandten erhält, sagt sie. Warum? "Es gibt keine Arbeit hier, daher müssen die Jungen nach Krems oder Wien auspendeln oder leben überhaupt unter der Woche dort."

Sichtbar wird die Überalterung der Waldviertler Bevölkerung unter anderem auch durch die zahlreichen Pfarren, die aufgrund des Priestermangels unbesetzt bleiben. Junge Geistliche gibt es kaum. Und auch die Schar der Gläubigen vergreist zusehends, wie ein Lokalaugenschein während eines Gottesdienstes in einer benachbarten Pfarre zeigt: Gerade einmal vier Personen haben sich zur Feier der Heiligen Messe eingefunden, drei von ihnen sind älter als 80 Jahre.

"Das ist nicht gut", meint eine der Messbesucherinnen nach dem Schlusssegen. "Die Jungen fahren alle nach Wien und Krems und somit bleibt ja keiner mehr da." Früher sei vieles besser gewesen, da habe noch "jeder Bauer sein Viech gehabt, jetzt gehens alle arbeiten", sagt sie und wendet sich in Richtung Kirchenausgang. "Ich bin heilfroh, dass wir unseren Pfarrer noch haben."

Aber auch der zählt mit seinen knapp 90 Jahren nicht zu den Jüngsten. Im Juni werden es 50 Jahre sein, seitdem er in der Gemeinde seinen Dienst angetreten hat. "Wir sind alt geworden", erzählt die 90-jährige Pfarrersköchin schließlich bei Kaffee und Kuchen. Die Möblierung des Pfarrhofes weckt Erinnerungen an die 70er Jahre. Sie selbst stehe bereits seit rund 60 Jahre im Dienst der Kirche - und verrichte dennoch wie eh und je alle notwendigen Tätigkeiten im Haushalt, erzählt sie. Selbst als Mesnerin hilft die rüstige Frau täglich beim Gottesdienst aus. Zu tun gibt es nach wie vor genug. Vergangenes Jahr hat es in der Pfarre sieben Beerdigungen gegeben - und drei Taufen.