Zum Hauptinhalt springen

Die Ukraine - ein jüdischer Friedhof

Von Fritz Rubin-Bittmann

Gastkommentare
Fritz Rubin-Bittmann wurde 1944 in Wien als Sohn jüdischer Eltern geboren und überlebte als "U-Boot". Er ist Arzt für Allgemeinmedizin (2016 mit dem Berufstitel Professor ausgezeichnet) und hat zu Zeitgeschichte und Religionsphilosophie publiziert.
© Parlamentsdirektion / Johannes Zinner

Das Land, das sich nun mit Hilfe des Westens gegen den russischen Angriffskrieg wehrt, hat eine düstere Vergangenheit, die zahlreiche Pogrome beinhaltet.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 1 Jahr in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Seit mehr als einem Jahr greift Russland die Ukraine an. Die beiden Länder sind seit 1654 miteinander verbunden. Damals begab sich der ukrainische Hetman Bohdan Chmelnyzkyj durch den Vertrag von Perejaslaw unter den Schutz und die Herrschaft des russischen Zaren. Vor 240 Jahren, am 8. April 1783, wurde die Halbinsel Krim Teil des Zarenreiches, nachdem sie 1774 vom Osmanischen Reich unabhängig geworden war. Ab 1917 gehörte sie zur Sowjetunion. Sie gilt als Riviera des Ostens.

1954 schenkte Nikita Chruschtschow die Krim der Ukraine, die damals ebenfalls eine Teilrepublik der Sowjetunion war, nicht ahnend, dass die UdSSR knapp vier Jahrzehnte später zerfallen würde. Offizieller Anlass war die 300-Jahr-Feier des Vertrags von Perejaslaw. Inoffiziell hieß es, Chruschtschow habe mit der Krim-Schenkung seine ukrainische Gattin besänftigen wollen. Für die Sowjets war die Halbinsel militärstrategisch unverzichtbar. In der zu 99 Prozent russischsprachigen Stadt Sewastopol lagerte ihre Kriegsflotte. In diesem Licht ist die russische Annexion der Krim 2014 - bekanntlich durch Streitkräfte ohne Hoheitszeichen - zu sehen.

Auch die Ukraine als Ganze hat für Russland die Funktion eines militärstrategischen Hinterhofs, ähnlich wie Kuba für die USA, wo 1962 ein Dritter Weltkrieg verhindert wurde. Konnten damals die USA nicht die Stationierung sowjetischer Atomraketen auf Kuba akzeptieren, so waren sechs Jahrzehnte später für Russlands Präsidenten Wladimir Putin nach der sukzessiven Erweiterung der Nato - die de facto den verlängerten militärischen Arm der USA darstellt - um ehemalige Staaten des Warschauer Paktes die Bemühung um eine Aufnahme der Ukraine inakzeptabel.

Der ukrainische Nationalheld, der Juden massakrierte

Zurück zu Hetman Chmelnyzkyj, der im 17. Jahrhundert gegen die Polen kämpfte. Dabei entstand ein ukrainischer Kosakenstaat. Der Hetman war ein Judenhasser, der mit seinen Kosaken zehntausende Juden massakrierte. Schwangeren sollen die Bäuche aufgeschnitten und die entnommenen Föten durch Katzen ersetzt und das Ganze wieder zugenäht worden sein. Die Wut der Kosaken richtete sich primär und ursprünglich nicht gegen die Juden, sondern gegen die polnischen Feudalherren, die von den Juden unterstützt wurden. Doch die Polen ließen die Juden im Stich, und so wurden sie Opfer wildester Gewaltexzesse.

Chmelnyzkyj ist der wichtigste Nationalheld der Ukraine. In fast jeder ukrainischen Stadt gibt es ein Denkmal und Straßen, die nach ihm benannt sind. Auch ein Geldschein trägt sein Konterfei. Die Kosaken ("freie Menschen") waren Reiterhorden und tapfere Kämpfer. Ursprünglich ehelos, gründeten sie später aber auch Familien. Sie siedelten vorwiegend an den Flüssen Dnjepr und Don. 1768 kam es zum Aufstand der Hajdamaken ("Räuber") unter Führung der Saporoger Kosaken. Die bewaffneten Bauern richteten im Kampf gegen die polnische Fremdherrschaft in der Ukraine ein Blutbad unter den Juden an.

Die Polen flüchteten vor den Kosaken nach Uman, das im Chassidismus eine wichtige Stadt ist. Dort lebte und starb Rabbi Nachman von Bratzlaw, der Enkel des Rabbis Israel ben Elieser, des Gründers der Chabad-Bewegung, die teils als Reaktion auf die grausame Vernichtung zehntausender Juden durch Chmelnyzkyj entstand. Der Chassidismus ist die bedeutendste religiös-geistige Schöpfung des Judentums in der Diaspora. Der ukrainische Schriftsteller Taras Schewtschenko verherrlichte das Gemetzel der Kosaken an den Juden und Polen als patriotische Heldentaten. Sein Gedicht wurde ins Russische übersetzt, darauf basiert Modest Mussorgskis Komposition "Hopak", bis heute ein berühmter ukrainischer Volkstanz.

Die Aufteilung Polens und der Ukraine

Polen und damit auch das Gebiet der Ukraine wurden 1772 bis 1795 unter dem Zarenreich und der Habsburger Monarchie aufgeteilt. Galizien, der südliche Teil mit der Hauptstadt Lemberg, wurde österreichisch, Wolhynien und Podolien kamen zu Russland. Die kämpferische Tradition der Kosaken war Vorbild für die ukrainischen Nationalisten, die nach dem Ersten Weltkrieg einen unabhängigen ukrainischen Staat gründeten. Einer der führenden Politiker in dessen Führungsdirektorium, Symon Petljura, stammte von den Kosaken ab. Er wird bis heute als nationale Identifikationsfigur der Ukraine verehrt. Allerdings wird den von ihm angeführten Milizen die Ermordung von 40.000 Juden vorgeworfen.

Der 1918 entstandene ukrainische Staat wurde nach nur zwei Jahren polnisches Hoheitsgebiet. Petljura flüchtete nach Paris, wo der Künstler Scholom Schwarzbard ihn erschoss. Der Mordprozess erregte international großes Aufsehen. Schwarzbard wurde freigesprochen, da 19 Familienangehörige von Petljuras Milizen ermordet worden waren.

Auf dem Gebiet der Ukraine wurden im Zweiten Weltkrieg 1,5 Millionen Juden ermordet. So erschossen Einheiten der Wehrmacht und ukrainische Hilfstruppen allein am 29. und 30. September 1941 in der Schlucht von Babyn Jar nahe Kiew 33.000 jüdische Männer, Frauen und Kinder. Schon davor hatte es zahlreiche Pogrome gegeben, speziell zu Ostern wurden sie als Christusmörder verfolgt, erschlagen, beraubt, vergewaltigt. Das Wort "Pogrom" stammt übrigens aus dem Russischen und bedeutet "schlagen, erschlagen, zerstören". Es ist verwandt mit dem russischen Begriff für "Donner". In der ersten ukrainischen Republik 1918 bis 1920 wurden die Pogrome mit militärischer Exaktheit von Soldaten und Milizionären durchgeführt. Aber auch die Bevölkerung beteiligte sich daran, nackte jüdische Frauen und Männer zu Tode zu hetzen. Die Massenvernichtung der Juden durch die Nationalsozialisten war somit eine Weiterführung dieser ukrainischen Pogrome.

Grausame Milizen und Ultranationalisten

Die Hauptstraße nach Kiew, die an Babyn Jar vorbeiführt, ist heute nach Stepan Bandera sowie nach Roman Schuchewytsch benannt. Das ist blanker Zynismus, denn Bandera richtete mit seinen Milizen beim Einmarsch der Wehrmacht in Lemberg 1941 fünf Tage lang eines der ärgsten Gemetzel unter den Juden an. Nach dem Krieg tauchte Filmmaterial auf, das zeigte, wie splitternackte Frauen an den Haaren durch die Straßen gezerrt und mit Stangen verprügelt und nackte Männer zu Tode traktiert wurden.

Bandera wollte mit Hilfe der Nationalsozialisten wieder einen eigenen, unabhängigen ukrainischen Staat errichten. Nach einer Abfuhr durch Adolf Hitler kämpfte er gegen die Wehrmacht und kam als Ehrenhäftling - so wie Kurt Schuschnigg - ins KZ Sachsenhausen, wo er ein eigenes Zimmer mit Bildern und Büchern hatte. Später kam er frei und bildete ukrainische SS-Einheiten, die wegen ihrer Grausamkeit berüchtigt waren und bis zum letzten Kriegstag in der Steiermark gegen die Sowjets kämpften und auch danach einen Guerilla-Kampf führten. Banderas Milizen ließen auch gemeinsam mit der Wehrmacht 140.000 sowjetische Kriegsgefangene verhungern.

1959 wurde Bandera in München von einem KGB-Agenten erschossen, 2010 vom ukrainischen Präsidenten posthum zum Nationalhelden erklärt, ebenso wie Roman Schuchewytsch. Dieser hatte polnische Politiker ermordet, war ab 1929 führendes Mitglied der Organisation ukrainischer Nationalisten und hatte 1939 einen pro-ukrainischen Staatsstreich in der tschechoslowakischen Karpatenregion durchgeführt. Auch er war an Judenmassakern beteiligt. Das ukrainische Kulturministerium unterstützte zu seinen Ehren den Spielfilm "Der Unbeugsame" (2000) finanziell.

Ultranationalistische Gruppierungen und Parteien haben bis heute einen großen Einfluss in der Ukraine, indirekt proportional zu ihrer zahlenmäßigen Größe. Präsident Wolodymyr Selenskyj ist als Jude eine Galionsfigur der Ukraine, aber ohne Zustimmung der Ultranationalisten geschieht nichts in der Politik. Bis heute berufen sie sich auf Bandera und seine Milizen. Wahrscheinlich meinte Putin mit der "Entnazifizierung" der Ukraine die kultische Verehrung von Bandera, Schuchewytsch, Petljura und anderer Nationalisten, die an der Ermordung von Juden und Russen beteiligt waren.