Die EU muss Stabilität exportieren und nicht Instabilität importieren.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 2 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
72 Jahre nach Robert Schumans Erklärung, die den Grundstein für die Europäische Union legte, steht diese stärker da als je zuvor. Russlands bereits mehr als zweimonatiger Angriffskrieg auf die Ukraine hat die 27 EU-Staaten geeint. Aber es zeigen sich erste Risse. Auch wenn es zurzeit kaum ausgesprochen wird - die Frage der EU-Erweiterung hat das Potenzial neuen Streits.
Die Aussage von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, der Ukraine ein beschleunigtes Beitrittsverfahren anzubieten, droht falsche Hoffnungen zu wecken. Denn ein EU-Beitritt macht sich nicht im Eiltempo, ihm liegen ein kompliziertes Verfahren und klar definierte Kriterien zugrunde, die 1993 beim EU-Gipfel in Kopenhagen in Vorfeld der Osterweiterung der EU festgelegt wurden. Verlangt werden institutionelle Stabilität, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, Wahrung der Menschenrechte, Schutz von Minderheiten sowie funktionierende Marktwirtschaft. Dies muss - so die derzeitige Rechtslage - vor Aufnahme von Beitrittsverhandlungen gewährleistet sein. Im EU-Warteraum stehen derzeit bereits die sechs Westbalkan-Staaten. Selbst die Türkei hat den Beitrittskandidatenstatus, wenngleich die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass Brüssel hier einen eigenen Modus Vivendi findet.
Brüssel - ja, was heißt denn "Brüssel"? Nicht die EU-Kommission in Brüssel entscheidet über die Aufnahme eines neuen Mitgliedes; die EU-Behörde führt zwar die Verhandlungen zur Übernahme des Rechtsbesitzstandes der EU durch und arbeitet die 33 Verhandlungskapitel ab, aber der Beitritt verlangt einstimmige Zustimmung aller 27 EU-Mitgliedstaaten - und eine qualifizierte Mehrheit im EU-Parlament.
Politik ist geleitet von Interessen. Und die Interessen der EU-Mitglieder sind bei weitem nicht ident. Nicht in allen Hauptstädten wird der Beitritt Serbiens, auch Montenegros gleichermaßen unterstützt. Gegen das Ansinnen Nordmazedoniens und Albaniens wurden anfangs Einwände geäußert, nur 22 der 27 EU-Länder haben den Kosovo als unabhängigen Staat anerkannt. Bosnien-Herzegowina gilt als unsicher. Trotzdem gilt es den Westbalkan in die EU zu holen, um diesen potenziellen Konfliktherd nicht externen Kräften zu überlassen.
Und jetzt die Ukraine; gefolgt von Georgien und der Republik Moldau. Auch wenn kein Zweifel besteht, dass die Ukraine zur europäischen Familie gehört, würde ein übereilter Beitritt nicht nur die Perspektive der Westbalkan-Staaten zurückdrängen, sondern die Last dieser neuen Beitritte könnte sogar die Europäische Union erdrücken. Oder sie zerreißen. Denn das institutionelle Gefüge der EU, das bereits mit 27 Mitgliedstaaten an seine Grenzen stößt, hielte dieser Erweiterung nicht stand.
Außerdem ist es für die EU von höchstem Interesse, Stabilität zu exportieren und nicht Instabilität zu importieren. Vergessen wir nicht: Der Friedensnobelpreis, den sie vor zehn Jahren erhielt, sollte auch eine Anerkennung für Jahrzehnte des Friedens, der Versöhnung und der Demokratie sein. Dieses Kapital darf auch angesichts des Ukraine-Krieges nicht verspielt werden. Denn nur in innerem Gleichgewicht kann Europa seine wichtigste Aufgabe erfüllen: für die Bürger, für die Menschen da zu sein.