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"Die Ukraine kann den Krieg gewinnen"

Von Ronald Schönhuber

Politik

Mark Hertling, Ex-Kommandant der US-Armee in Europa, über die Schlagkraft von Panzern und russische Schwächen.


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"Wiener Zeitung": Unmittelbar nach dem Beginn der russischen Invasion sind die meisten davon ausgegangen, dass Kiew in wenigen Tagen fallen wird. Sie waren einer der ganz wenigen Experten, der vorausgesagt hat, dass die russische Armee sich in der Ukraine extrem schwertun wird, weil sie viel schlechter ist als gemeinhin angenommen. Nach elf Monaten scheint Russland aber nun zumindest teilweise das Momentum zurückgewonnen zu haben. Haben die Russen aus ihren Fehlern gelernt? Sehen wir jetzt eine bessere russische Armee als im vergangenen Februar?

Mark Hertling: Ich glaube nicht, dass das so ist. Russland hat nach wie vor nicht die notwendige Menge an Truppen für die Aufgaben, die es bewältigen will. Die russische Armee bildet ihre Soldaten auch nicht gut aus. Ich war in Friedenszeiten bei vielen russischen Manövern und Trainingsveranstaltungen dabei und die Soldaten sind nicht auf jenen Hochintensitätskonflikt vorbereitet, den die russische Armee laut ihrer Doktrin führen soll. Die in dieser Hinsicht wichtigste Erfahrung, die ich gemacht habe, als ich als Oberkommandierender der US-Armee in Europa mit den Russen zu tun hatte, betrifft aber die Führungskultur. So wie die russische Armee über alle Ränge hinweg geführt wird - von den Generälen über die Offiziere bis hin zu den Soldaten -, ist sie nicht in der Lage, das komplexe Gefecht der verbundenen Waffen zu führen und auf taktischer Ebene so vorzugehen, wie es nötig wäre, um die strategischen Ziele zu erreichen.

Derzeit sieht es ganz danach aus, als würde Russland weitere Mobilisierungswellen planen. Wird das einen Effekt auf dem Schlachtfeld haben?

Das kann durchaus einen Effekt haben. Es gibt ja dieses alte militärische Sprichwort, dass Quantität eine eigene Qualität besitzt. Derzeit ist die Rede von 300.000 bis 400.000 neuen Soldaten, aber ich weiß nicht, wo der russische Präsident Wladimir Putin so viele mobilisierte Soldaten hernehmen will. Während der ersten Mobilisierungswelle, als vermutlich 200.000 Mann rekrutiert wurden, haben gleichzeitig 200.000 Männer das Land verlassen. Doch selbst wenn er die 300.000 zusammenbekommt, bleibt die Frage, wie diese neuen Soldaten für die Front ausgebildet und ausgerüstet werden sollen. Dennoch kann eine solche Masse auch überwältigend sein. Das haben wir zuletzt bei den Gefechten um Bachmut und Soledar gesehen.

Sowohl die Ukraine als auch Russland planen derzeit offenbar große Offensivoperationen. Sehen wir eine neue - möglicherweise entscheidende Phase - des Kriegs und wie werden sich die Dinge Ihrer Einschätzung nach in den kommenden Monaten entwickeln?

Auf russischer Seite werden viele Mobilisierte die Truppen verstärken. Für die Ukraine wird es herausfordernd werden, nicht nur ihre Truppen vorzubereiten, sondern auch gleichzeitig viele neue Waffensysteme zu integrieren, mit denen die Soldaten nicht vertraut sind. Die gute Nachricht ist aber, dass sich die ukrainische Armee in dieser Hinsicht als sehr fähig erwiesen hat. Ich denke, wir werden Offensivoperationen im Südosten sehen und kleinere taktische Gefechte im Donbass, um Gelände zurückzugewinnen. Die Hauptanstrengung wird aber wohl sein, die von der Krim kommenden Logistikflüsse der Russen abzuschneiden.

Abgesehen von den Dingen, die Sie erwähnt haben: Was werden die größten Herausforderungen für beide Seiten in den kommenden Monaten sein?

Die Ermüdung. Ich war auch im Gefecht, habe aber bei weitem nicht so einen intensiven Kampf erlebt wie die Soldaten derzeit an der Front. Bei Bachmut gibt es infolge der endlosen Angriffswellen der Wagner-Truppe eine unglaubliche Zahl an Toten. Das hat einen massiven Effekt für beide Seiten, auch wenn er für die Ukrainer vielleicht ein bisschen geringer und anders ist. Die ukrainischen Soldaten sind gezwungen, quasi ohne Pause zu töten, an der Frontlinie türmen sich buchstäblich die toten Körper. Ich habe gestern einen Beitrag eines CNN-Reporters gesehen, der ukrainische Soldaten gefilmt hat, die direkt von einem Kampfeinsatz in Bachmut gekommen sind. Im Gesicht dieser Männer hab ich das gesehen, was wir den 1.000-Meter-Blick genannt haben. Diese Soldaten waren erschöpft, sie haben zu viel gesehen und zu viel erlebt. Diese Kombination von psychischer und physischer Belastung von Soldaten haben wir seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gesehen.

Dagegen lässt sich auch nicht wirklich etwas unternehmen, oder?

Als ich Kommandant war und eine Einheit besucht habe, habe ich den Soldaten immer in die Augen gesehen und mit ihren Vorgesetzten gesprochen. Und sobald ich den Eindruck hatte, dass die Belastung zu hoch ist, habe ich diese Einheiten zurückgezogen und die Anzahl der zu erledigenden Missionen reduziert. Die Ukraine kann das nicht machen. Sie kämpft mit einer relativ kleinen Armee an allen Fronten.

Sie haben während "Desert Storm" Panzereinheiten kommandiert, von 2007 bis 2009 waren sie im Irak für eine 30.000 Mann starke multinationale Einheit verantwortlich. Vor der Entscheidung Deutschlands, Leopard 2 in die Ukraine zu liefern, hat es eine massive Debatte gegeben. Welche Rolle können Panzer heute auf dem Schlachtfeld spielen - auch im Hinblick auf moderne Anti-Panzer-Lenkwaffen?

Panzer können eine große Rolle spielen. In der US-Armee wird die Artillerie der "König der Schlacht" genannt, die Infanterie die "Königin der Schlacht". Die Panzer-Truppe wird dagegen als "Combat Arm of Decision" bezeichnet. Wir sind also nicht nach einer Schachfigur benannt, sondern nach unserer Fähigkeit, Schockoperationen mit großer Feuerkraft und hoher Beweglichkeit durchzuführen. Wenn man über gut ausgebildete Panzerkräfte verfügt, kann man einen Gegner damit buchstäblich überwältigen, vor allem, wenn es sich um Infanterieeinheiten handelt. Ich habe es oft erlebt, dass allein das Auftauchen eines Panzers und die damit verbundene psychologische Wirkung ausgereicht haben, um das Blatt im Gefecht zu wenden. Und wenn man neben Panzern auch noch über Artillerie, Infanterie, Ingenieure und Logistikcrews verfügt, die das Gefecht der verbundenen Waffen beherrschen und sich auf militärische Aufklärung stützen können, gibt es nichts, was solche Kräfte stoppen kann. Westliche Armee haben das schon mehrfach demonstriert.

Ist die Ukraine in der Lage, das Gefecht der verbundenen Waffen zu führen?

Noch nicht. Aber im deutschen Grafenwöhr trainiert gerade ein großer ukrainischer Verband und das wird wohl den Start markieren. In den nächsten Monaten werden viele ukrainische Einheiten auf europäischen Truppenübungsplätzen Taktiken und Manöver trainieren, mit denen sie den russischen Truppen überlegen sein werden.

Wie gut sind die westlichen Kampfpanzer im Vergleich?

Der russische T-72 hat eine effektive Reichweite von 1.700 Metern, deutsche und amerikanische Panzer können Ziele in einer Entfernung von 2.500 bis 2.700 Metern mit dem ersten Schuss ausschalten. Mit Panzerabwehrlenkwaffen wie der TOW des versprochenen Bradley-Schützenpanzers und der schultergestützten Javelin liegt die Reichweite sogar bei 4.500 Metern. Wenn du ein guter Kommandant bist und mit deinem Material umgehen kannst, liegen die Vorteile klar auf der ukrainischen Seite und nicht auf der russischen. Die Lieferung westlicher High-Tech-Panzer an eine Armee, die damit keine Erfahrung hat, bedeutet aber eine enorme Herausforderung für die kommandierenden Offiziere und kann auch zu Chaos führen. Ich habe daher auch immer dafür plädiert, den deutschen Leopard zu schicken und nicht den amerikanischen Abrams, weil hier die Erhaltung und die Anforderungen an die dahinterliegenden Logistikketten weniger komplex sind. Ich mache mir Gedanken darüber, wie die westlichen Panzer gewartet werden sollen und wie sie mit Ersatzteilen und ausgebildeten Mannschaften versorgt werden.

Wie bewerten Sie in diesem Zusammenhang die nun offenbar doch bevorstehende Lieferung von Abrams?

Die Ankündigung, dass die USA Abrams schicken, war wohl nicht zuletzt dafür gedacht, der deutschen Regierung dabei zu helfen, ihre Ineffizienzen im Entscheidungsfindungsprozess zu überwinden. Wenn wir von einer größeren Anzahl von Abrams reden, wird es aber lange brauchen, um die Ukrainer sowohl am Panzer selbst als auch für die Instandhaltung auszubilden. Abrams werden auf dem Schlachtfeld weder in einer Woche noch in ein paar Monaten auftauchen, das ist eine langfristige Lösung.

Was ist mit reichweitenstarken Waffen, die Ziele in einer Entfernung von 100 bis 300 Kilometern treffen können? Seit Beginn des Kriegs wird über ATACMS-Raketen diskutiert, zuletzt waren es Raketenbomben vom Typ GLSDB. Braucht die Ukraine solche Waffensysteme nicht ebenso nötig wie Panzer?

Ja, das tut sie. Aber diese Systeme nicht zur Verfügung zu stellen, ist eine politische Entscheidung von Präsident Joe Biden, die ich unterstütze. Denken Sie nur an folgendes Szenario. Eine von ukrainischen Soldaten abgefeuerte ATACMS fliegt auf russisches Staatsgebiet und statt einem militärischen Ziel trifft sie ein Wohnhaus und tötet hundert russische Bürger. Wie wird das von der russischen Presse bewertet werden? Ist das eine verirrte ukrainische Rakete oder eine verirrte amerikanische Rakete?

Sie verfolgen natürlich auch die US-Politik genau. Haben Sie die Befürchtung, dass die Unterstützung der Ukraine mit einem republikanisch dominierten Repräsentantenhaus zurückgehen könnte?

Derzeit schwindet die Unterstützung nicht. Da ich nicht mehr im aktiven Dienst bin, kann ich aber sagen, dass es im Kongress eine Reihe extremer Politiker gibt, die den Kampf für Freiheit und internationale Allianzen nicht unterstützen. Aber ich glaube nicht, dass es dieser Gruppe gelingen wird, genug Momentum zu erzeugen, um die weitere Unterstützung der Ukraine zu verhindern.

Was sind die wichtigsten Lektionen, die Militärführer aus diesem Krieg bisher mitnehmen können?

Viele werden wohl auf das Auftauchen neuer Technologien schauen. Meine erste Lektion betrifft dagegen die Frage, wie gut es gelingt, die überwölbende politische Strategie mit den Taktiken und Operationen auf dem Schlachtfeld in Einklang zu bringen. Der Ukraine gelingt das sehr gut, den Russen nicht, und das ist auch der Grund, warum sie in vielen Bereichen scheitern. Die andere Lektion, die eigentlich keine neue ist, aber immer wieder aufs Neue gelernt werden muss, ist die Erkenntnis, dass jene Armee, die sich am schnellsten anpassen kann, gewinnen wird. Auch hier hat die Ukraine Vorteile. Der dritte wichtige Punkt betrifft den essenziellen Wert von Allianzen und ich hoffe, alle Nato-Mitglieder sehen das nun auch so. In meinen letzten Dienstjahren waren wir sehr besorgt über den Zustand des Bündnisses, doch im Augenblick gibt es wieder eine unglaubliche Einigkeit.

Glauben Sie, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnen kann? Und was wäre überhaupt die Definition eines Sieges?

Ja, die Ukraine kann diesen Krieg gewinnen. Zu entscheiden, was ein Sieg ist, obliegt natürlich Präsident Wolodymyr Selenskyj und dem ukrainischen Volk. Als Außenstehender wäre meine Definition eines Sieges aber die Rückeroberung aller besetzten Gebiete - inklusive der Krim.