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"Die Ukrainer haben auf dem Maidan die Revolution von 1989 nachgeholt"

Von Gerhard Lechner

Politik

Der Ukraine-Experte und Osteuropa-Historiker Andreas Kappeler bewertet die Ereignisse auf dem | Unabhängigkeitsplatz in Kiew vor zwei Jahren positiv - trotz aller Missstände, die die Ukraine bis heute lähmen.


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"Wiener Zeitung": Vor mittlerweile zwei Jahren ereignete sich in der Ukraine der Aufstand auf dem Maidan, der das Land grundlegend verändert hat. Was bedeuten die damaligen Ereignisse für die heutige Ukraine?Andreas Kappeler: Ich bewerte die Revolution auf dem Maidan im Grunde sehr positiv. Man muss sich nur die Situation vergegenwärtigen, wie sie vorher war. Das Regime von Präsident Wiktor Janukowitsch wurde immer schlimmer, kleptokratischer und diktatorischer. Dagegen protestierte die Zivilgesellschaft, eine Bewegung, die - man muss sich das vor Augen führen - die größte in Europa seit 1989 war. Dass das ausgerechnet in der Ukraine, die man oft als gescheiterten Staat betrachtet, möglich war, war beeindruckend. Es war ein Versuch, die Revolution von 1989 nachzuholen. Die Ukrainer haben gesehen: Es kann gelingen, einen Präsidenten zu stürzen.

Der Sieg der Revolution rief aber sofort Russland auf den Plan.

Ja. Russland hat unmittelbar auf den Sturz von Janukowitsch reagiert, und zwar deshalb, weil Präsident Wladimir Putin dies als ein Fanal für sich selbst gesehen hat. Ein Erfolg des Maidan musste unbedingt verhindert werden. Das ist meines Erachtens der Hauptgrund für die russische Intervention auf der Krim und in der Ostukraine.

Ist diese russische Intervention schuld, dass seit dem Maidan so wenig weitergegangen ist in der Ukraine?

Kiew betont, dass dem so ist, dass ein Zu-Ende-Führen der Revolution in Zeiten des Krieges besonders schwierig ist. Das stimmt natürlich. Aber das ist keine Entschuldigung für die Versäumnisse in den letzten beiden Jahren. Zu wenig von dem, was versprochen wurde, ist eingehalten worden.

Wird die Ukraine deshalb auf ihrem Weg nach Westen scheitern?

Das glaube ich nicht, und zwar, weil der Westen die Ukraine schlicht und einfach nicht fallen lassen kann. Das Assoziierungsabkommen mit Kiew ist bereits am 1. Jänner in Kraft getreten. Das kann man nicht wieder rückgängig machen. Noch wichtiger ist aber: Wenn der Westen die Ukraine fallen lassen würde, würde man das Land Russland ausliefern und dessen Eingreifen nachträglich rechtfertigen. Deshalb wird der Westen das auch sicher nicht tun. Aber ich halte es für sehr wichtig, dass der Westen Druck auf Kiew ausübt, und zwar kräftigen Druck, damit der Reformprozess endlich weitergeht.

Wer bremst denn die nötigen Reformen in der Ukraine?

Vor allem jene Leute, die mit dem oligarchischen System verwoben sind. In Kiew hat auch nach der Maidan-Revolution kein Systemwechsel stattgefunden. Noch heute kann man Parlamentsabgeordnete kaufen und, wenn man genug Geld und Beziehungen hat, Minister unter Druck setzen, um Günstlinge in einflussreiche Positionen zu bringen. Es gibt ein System von finanziellen und politischen Abhängigkeiten. Wirtschaftliche Macht wird in Politik umgesetzt und umgekehrt.

Gibt es dagegen nicht Druck seitens der viel zitierten Zivilgesellschaft? Es sind doch in mehreren Parteien junge Leute aus der Maidan-Bewegung im Parlament, deren Ziel es ist, diese Zustände zu verändern.

Doch, die Zivilgesellschaft ist nicht verschwunden. Vor allem in der Partei "Selbsthilfe" des Lemberger Bürgermeisters Andrij Sadowyj sind viele Aktivisten tätig. Dennoch haben sie es nicht geschafft, in der Ukraine eine Wende zu erzwingen. Wirklich besorgniserregend ist die Enttäuschung in der Bevölkerung. Von den Reformen haben die Menschen bisher nur die negativen Folgen gespürt. So wurden etwa auf Geheiß der EU die Gaspreise erhöht, die vorher hoch subventioniert waren. Die Desillusionierung, die derzeit vor sich geht, erinnert fatal an die nach der sogenannten "Orangen Revolution". Damals hatten Präsident Wiktor Juschtschenko und Premierministerin Julia Timoschenko den Kredit in der Bevölkerung binnen weniger Monate verspielt. Auch jetzt fallen die Ratings von Präsident und Premier ins Bodenlose.

Könnte also wie nach der Orangen Revolution mittelfristig die Opposition aus den russischsprachigen Gebieten, die Nachfolger von Janukowitschs "Partei der Regionen", wieder nach vorne drängen?

Der Oppositionsblock, wie er sich nennt, hat tatsächlich etwas an Boden gewonnen. Das zeigt, dass man im Osten und vor allem auch im Süden der Ukraine - etwa in Odessa - mit dem entschiedenen Westkurs der Regierung Jazenjuk nicht zufrieden ist. Man fühlt sich dort der russischen Kultur verbunden und möchte die Brücken dorthin nicht radikal abbrechen. Die Loyalität zum ukrainischen Staat leidet darunter aber nicht. Zu Russland wollen nur noch sehr wenige, vielleicht ein paar alte Kommunisten. Die Sprachenfrage, die so lange polarisiert hat, ist mittlerweile vom Tisch. Die Ukrainer sind heute eine zweisprachige politische Nation. Selbst in den rechtsextremen Nationalistenbataillonen wird oft Russisch gesprochen.

Wenn es so ist - hat dann Putin mit seinem Eingreifen in der Ukraine nicht das Gegenteil von dem erreicht, was er eigentlich wollte?

Putin hat eine Spaltung der Ukraine angestrebt. Doch er hat sich verrechnet. Er glaubte offenbar, dass ein viel größerer Teil der Ukrainer die Loyalität zum ukrainischen Staat aufgeben würde. Das war nicht der Fall. Was er erreicht hat, ist ein frozen conflict, also ein eingefrorener Konflikt, der die Ukraine destabilisiert.

Gab es für das Eingreifen Russlands nicht auch andere Gründe - etwa die Angst vor Nato-Basen auf der Krim?

Doch, ja, das spielte auch eine Rolle. Russland lebt ja, und das kann man durchaus verstehen, mit einem postimperialen Trauma. Man fühlt sich eingekreist. Die Nato dringt bis ins Baltikum vor, führt mit Georgien Verhandlungen. Tatsächlich hat der Westen im Umgang mit Russland zu wenig Fingerspitzengefühl gezeigt. Daraus aber eine Rechtfertigung für einen bewaffneten Eingriff in einem Nachbarstaat zu zimmern, das ist unakzeptabel. Es mag Russland nicht gefallen, dass die Ukraine Richtung EU geht, aber wenn die Ukrainer das wollen, ist es letztlich ihre Sache. Und es ist ja auch nicht so, dass die EU und auch die Nato die Ukraine, wie mancherorts gesagt wird, "gelockt" hätten. Brüssel hat Kiew jahrelang hängen gelassen. Die EU hat sich die Ukraine vom Leib gehalten. Und das, obwohl die Orientierung Richtung Brüssel in Kiew immer unumstritten war. Schließlich war es ausgerechnet die Regierung unter dem prorussischen Präsidenten Janukowitsch, die das Assoziierungsabkommen mit Brüssel verhandelt hat, bis es unterschriftsreif war.

Wie beurteilen Sie das Minsker Abkommen, das vor einem Jahr ausgehandelt worden ist? Könnte es Frieden in der Ukraine bringen?

Über dieses Abkommen habe ich mich geärgert. Putin hat bei dem Minsker Abkommen die westlichen Politiker über den Tisch gezogen. Es war von Anfang an klar, dass die Bedingungen nie erfüllt werden. Putin wusste das, die Ukrainer wussten das, nur Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident François Hollande offenbar nicht. Das Entscheidende an dem Abkommen ist die Kontrolle der russisch-ukrainischen Grenze durch die Ukrainer. Dieser Punkt ist allerdings der allerletzte auf der Liste, alles andere muss vorher erfüllt sein. Und Putin wusste: Diese Bedingungen werden nie erfüllt! Immerhin konnte das Blutvergießen weitgehend beendet werden, doch wird die Waffenruhe nicht eingehalten. Auch das ukrainische Parlament hat den Verfassungsartikel, der den Gebieten, die von den prorussischen Milizen kontrolliert werden, eine Teilautonomie zusprechen würde, noch nicht verabschiedet. Für Putin wäre es überdies ein gewaltiger Gesichtsverlust, die Ostukraine wieder aufzugeben. Mit anderen Worten: Das Gerede, man müsse nur die Minsker Vereinbarungen umsetzen, und dann werde alles gut, ist lächerlich.

Zur Person

Andreas

Kappeler

(72) ist emeritierter Universitätsprofessor an der Universität Wien. Der Osteuropa-Historiker gehört zu den besten Kennern Russlands und der Ukraine.