Die angekündigte Offensive der ukrainischen Streitkräfte ist bereits angelaufen, sagt Militärexperte Thomas C. Theiner. Anders als andere Analysten geht er von einem durchschlagenden Erfolg aus.
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"Wiener Zeitung": Sie haben den Verlauf des russischen Angriffs auf die Ukraine im Jänner 2022 präzise vorausgesehen. Wie schätzen Sie die kommende Gegenoffensive der ukrainischen Streitkräfte ein?
Thomas C. Theiner: Russland droht eine vernichtende Niederlage. Eine komplett demoralisierte Armee, die zum Teil Panzer nutzt, deren Produktion Stalin abgesegnet hat, trifft auf hochmotivierte Ukrainer mit teils modernstem Gerät. Der Angriff wird an drei Frontabschnitten erfolgen und die Russen in ein Dilemma stürzen, weil sie dafür nicht genug Truppen haben. Schickt man seine Truppen an den Dnjepr, um das Übersetzen der Ukrainer zu stören, oder in Richtung Norden bei Luhansk, entblößt man das Zentrum. Lässt man die Truppen im Zentrum, kann an den Flanken durchgebrochen werden.
Wann startet die Offensive? Wartet man noch auf trockenen Boden, weitere Lieferungen oder beides?
Die Ukrainer warten noch auf in Schweden ausgebildete Truppen mit exzellentem Material. Das Training ist vor kurzem zu Ende gegangen, in einigen Tagen sind sie einsatzbereit. Im Prinzip ist die Offensive aber schon angelaufen. Die zerstörten Ölraffinerien und -lager bilden die ersten Vorbereitungen. Wenn den Russen der Treibstoff ausgeht, wird auch das Wegrennen schwierig. Der Boden ist dennoch das Wichtigste. Auf dem Übungsplatz kann man auch im Schlamm fahren, im Kampfeinsatz sorgen solche Bedingungen aber für mannigfaltige Probleme.
Der Durchbruch erfolgt Ihrer Einschätzung nach auf einem Abschnitt entlang des Dnjeprs? Wie kann man sich das konkret vorstellen?
Die Südfront wird im Westen vom Fluss Dnjepr und in Richtung Norden von einer durchgehenden Kette russischer Stellungen begrenzt, welche bis zur Stadt Donezk reichen. Greift man im Osten in der Region Luhansk an, würde man Wälder und Dörfer zurückerobern, während man im Süden große Städte und Zugänge auf die Krim zurückgewinnen kann. Im Zuge der Südoffensive werden russische Nachschublinien unterbrochen, die Armee wird eingekesselt und aufgerieben. Die Ukrainer müssen die Frontlinien der Russen nicht auf 20 oder 30 Kilometern durchbrechen, sondern vielleicht auf fünf, sechs Kilometern. Man benötigt zwei größere Straßen zuzüglich eines Sicherheitsperimeters gegen Panzerabwehrwaffen, über die man durchmarschiert, um dann im russischen Rücken agieren zu können.
Die russische Armee hat sich in jüngster Zeit durch das Ausheben größerer Verteidigungslinien hervorgetan. Wie effektiv ist so etwas?
Diese Stellungen waren nur bis zu dem Zeitpunkt eine gute Idee, bis die ersten westlichen Schützenpanzer geliefert wurden. Der Stellungskrieg im vorigen Jahr rührte daher, dass die Ukraine nie genug Schützenpanzer hatte und die Russen so viele verloren haben. Mit der Ausstattung von 18 Kampfbrigaden durch die Alliierten hat sich das erledigt.
Viele der neuen Brigaden sind erst heuer ins Leben gerufen worden. Wie gut können solche neuen Verbände sein?
Die Ukrainer haben mitunter ihre kampferfahrensten Truppen von der Front zurückgerufen und an neuem Gerät geschult. Diese Crews wurden dann in die neuen Brigaden integriert. Die Infanterie mag vielleicht nicht die kampferfahrenste sein, dafür aber Panzerfahrer und Artillerie. Zusätzlich hat man bereits existierende regionale Bataillone in größeren Brigaden zusammengeführt. Die Russen haben zwar ähnlich viel in die Ausbildung ihrer mobilisierten Männer investiert, doch sind sie ohne Kampfpanzer an die Front geworfen worden, weshalb die Ukrainer sicherlich erfolgreicher sein werden.
Wie hoch schätzen Sie die Zahl der eingesetzten Soldaten auf ukrainischer Seite ein?
160.000 Mann sollte etwa die Untergrenze dessen darstellen, was die Ukrainer vorbereitet haben. Effektiv sollte man eher von 200.000 bis 220.000 Mann ausgehen, welche die Russen aufhalten müssen. Zur Veranschaulichung: Die Front in Bachmut ist ungefähr 20 Kilometer lang, dort haben die Russen zusammen mit den Wagner-Söldnern mit 26.000 Mann ihre größte Truppenkonzentration, inklusive rückwärtiger Artillerie, Versorgungseinheiten und so weiter. Damit ist man bei etwa 1.300 Mann per Kilometer, also 6.500 Mann auf fünf Kilometern. Selbst wenn sich zwei bis drei Stellen in ähnlicher Weise verstärken lassen, kommen auf 6.500 Russen jeweils etwa 50.000 Ukrainer zu. Zwar hat die russische Armee Reserven in der Hinterhand, aber die Amerikaner werden den Ukrainern genau mitteilen, wo diese Reserven stehen, um sie gezielt auszuschalten.
Würde sich ein möglicher Einsatz von Nuklearwaffen eher gegen ukrainische Truppen oder gegen eine Stadt richten?
Seit dem Kalten Krieg gibt es westliche Satelliten, die rund um die Uhr russische Atomwaffendepots beobachten. Sobald an einem Einzigen auch nur eine Tür aufgemacht wird, klingeln überall bei der Nato die Alarmglocken. Zwei Stunden nach so einer Beobachtung wäre jedes verfügbare Nato-Kampfflugzeug in der Luft. Ich glaube, dass die Russen es daher nicht riskieren werden, denn es bestünde dann die ernste Gefahr, dass Russland oder die Welt ausgelöscht wird. Auch der Einsatz einer kleinen taktischen Nuklearwaffe wäre erfolglos, denn die Ukrainer haben eine solche numerische Überlegenheit, dass man hundert taktische Atomwaffen einsetzen müsste, um auf dem Schlachtfeld eine Änderung der Situation herbeizuführen. Auch in einem solchen Falle wäre die Reaktion der Nato extrem hart.
Gibt es auf ukrainischer Seite neue Waffensysteme oder gelieferte Waffensysteme, die jetzt ein Gamechanger sein könnten?
Nicht eine einzelne Waffe wird den wesentlichen Unterschied ausmachen, jedoch der Umstand, dass die Ukrainer eine breite Auswahl westlicher Präzisionswaffen zur Verfügung haben. Die JDAM-ER sind beispielsweise sogenannte dumme Bomben, an die nun ein GPS-Modul montiert wird. Durch Gleitflügel können sie aus einer größeren Distanz abgeworfen werden. Ein weiterer substanzieller Unterschied dürfte das Patriot-Luftabwehrsystem sein, welches auf 200 Kilometer derart präzise ist, dass dem feindlichen Piloten nur der Schleudersitz bleibt. Die jüngste britische Zusage über den für Störsignale unempfindlichen Marschflugkörper Storm Shadow rückt Ziele im Hinterland ins Visier. Alldem gegenüber erweisen sich die russischen Waffen technisch stark unterlegen. Wer in Russland etwas draufhat, ist in den Westen gegangen. Dieser "Braindrain" zeigt sich in der mangelhaften Ingenieurskunst der russischen Waffensysteme.
Sie blicken sehr optimistisch auf die Offensive. Was ist das wahrscheinliche Szenario, sollten die ukrainischen Truppen bis an die Nordgrenze der Krim vorstoßen?
Die Krim zurückzuholen, ist einfach, da 90 Prozent der russischen Truppen, die für die Verteidigung der Krim zuständig sind, in der Südukraine stehen. Sind diese besiegt, haben die Russen keine Leute mehr, um die Krim zu verteidigen. Das Schwierigste ist, im Norden den lagunenartigen Sywaschsee inklusive seiner Brücken und Dämme zu überqueren. Nach etwa 40 bis 50 Kilometern gelangt man jedoch schon an den Eisenbahnknotenpunkt Dschankoj, den alle Züge mit Ziel Simferopol und Sewastopol ansteuern müssen. Dadurch würden die Russen keinen Nachschub für ihre auf der Krim stationierte Luftwaffe sowie die Marine mehr erhalten. Zudem kommen nach Überwindung der Lagune etwa 120 Kilometer Flachland ohne Bäume, Flüsse oder sonstige Hindernisse. An diesem Punkt könnten die Ukrainer eine Pause einlegen und schauen, ob man den Russen einen geordneten Rückzug gewährt oder, ob die russischen Generäle nun bereit sind, sich gegen Putin zu stellen. Ist dies nicht der Fall, kann man weiter auf Simferopol vorstoßen, denn in diesem Terrain lässt sich keine Verteidigungskette aufbauen. Ich weiß aus Kiew, dass das Hauptziel aus geostrategischer, aber auch aus symbolischer Sicht die Krim ist. Im Zweiten Weltkrieg brauchte es 130.000 Rotarmisten, um die Krim zu verteidigen. Sollte die russische Armee in der Südukraine geschlagen werden, bleibt auf der Krim nur ein Bruchteil für dasselbe Vorhaben.
Thomas C. Theiner zählt mit seinem Twitter-Konto @noclador zu den einflussreichsten und zuverlässigsten Quellen im russisch-ukrainischen Krieg. Der Südtiroler diente im Kommando der italienischen Gebirgsjäger und ist Verfasser tausender Wikipedia-Beiträge zu militärischen Belangen: Theiner arbeitet heute in der Filmindustrie und pendelt zwischen Wien und Tirol.