In die aktuelle Eskalation der Gewalt in Israel sind vor allem sehr junge Palästinenser involviert.
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Ramallah. Die Rollläden der Geschäfte in Ramallah bleiben an diesem sonnigen Oktobertag vorerst geschlossen. Die Fahnen in der wichtigsten Stadt des Westjordanlandes wehen auf Halbmast. Trotz des Wochentags sind die Straßen menschenleer. Selbst die Kinder müssen erst ab 13 Uhr in die Schule. "Wir haben einen Märtyrer", lautet die Erklärung für den Stillstand in der sonst tagsüber so lebhaften Stadt. Die palästinensischen Organisationen rufen stets einen halben Trauertag aus, wenn ein Palästinenser durch Gewalt stirbt. So will man allen Bewohnern in der Stadt des Gestorbenen ermöglichen, am Begräbnis und dem Trauerzug durch die Straßen teilzunehmen.
An diesem 32 Grad heißen Herbsttag wird Ahmad Abdullah Scharaka, 13, zu Grabe getragen. Sechs Soldaten der nationalen palästinensischen Sicherheitskräfte tragen den Buben, dessen Kopf in ein schwarz-weißes Palästinensertuch gewickelt ist, durch die Stadt; ihre Hände stecken in schneeweißen Handschuhen, ihnen folgen hunderte aufgebrachte Trauernde. "Ich habe ihm immer wieder gesagt, er soll nicht zu den Demonstrationen gehen", sagt Ahmads zwei Jahre älterer Bruder Odaj. Ahmad aber habe sich nicht beirren lassen. Vor seinem Vater verheimlichte er gänzlich, wohin er sich immer wieder aufmachte. "Ich dachte, er brauchte die vier Schekel, um im Café Videospiele zu spielen", sagt Abdullah Scharaka. Dabei nutzte sein Sohn das Geld wohl, um sich vom Flüchtlingscamp Dschalazun zum Checkpoint bei Beit El, einer jüdischen Siedlung, aufzumachen. Dort, aber auch andernorts im Westjordanland und in Ostjerusalem, stoßen seit mehreren Wochen immer heftiger Palästinenser mit israelischen Sicherheitskräften zusammen.
So auch vergangenen Sonntag. Junge Palästinenser schleudern Steine auf die israelischen Sicherheitskräfte, sie zünden Autoreifen an; sie stürmen in die Richtung der Soldaten, um Molotowcocktails zu werfen, um gleich darauf wieder zurück zu laufen und Deckung zu suchen. Die israelischen Soldaten antworten mit Tränengas und Gummigeschossen. In Beit El an diesem Tag aber offenbar nicht nur. Denn sei Ahmad plötzlich zusammengesackt, erzählt ein elfjähriger Bursch, der sagt, in dem Moment direkt neben ihm gestanden zu haben. Sofort packen andere Jugendliche Ahmad und tragen ihn zu einem Krankenwagen. Dennoch stirbt er wenig später im Krankenhaus von Ramallah; ob an dem Tag in Beit El scharfe Munition eingesetzt wurde, will eine Sprecherin der israelischen Armee gegenüber Al-Jazeera nicht kommentieren. Ahmads Cousin zeigt auf seinem Smartphone ein Bild des Einschusslochs in Ahmads Kopf. Die Eintrittswunde am Nacken knapp unter dem Ohr ist zwei, wenn nicht drei Zentimeter breit. "Er hatte innere Blutungen und Blutgerinnsel im Gehirn", sagt der Vater. Da sei nichts mehr zu machen gewesen. Als die Ärzte den Vater schließlich zu Ahmad lassen und der ihn auszieht, um den Leichnam zu waschen, findet er noch eine halbe Packung Chips in der Hosentasche seines Kindes.
"Völlig unvorhersehbar"
Das jüngste gewaltvolle Aufbegehren der Palästinenser gegen Israel, das viele rätseln lässt, ob eine dritte Intifada bevorsteht, verwundert selbst so manchen Palästinenser. Dies vor allem, da es von der sehr jungen Generation getragen wird. Die meisten Demonstranten an den Checkpoints sind zwischen 13 und 22 Jahre alt. "Nie hätten wir geglaubt, dass diese Generation, die eigentlich ihr Leben auf Facebook verbringt, Wasserpfeife raucht und Partys feiert, Steine auf Israelis werfen wird", sagt der 42-jährige Abdullah aus Hebron.
Diese junge Generation belässt es aber nicht dabei, Steine zu werfen. In einer Serie von palästinensischen Schuss- und Messerattacken wurden seit Monatsbeginn sieben Israelis getötet und dutzende verletzt; die Angriffe, die unkoordiniert von Einzeltätern ausgeführt werden, versetzen Israel in Panik. Erst am Freitag griffen dutzende Palästinenser das Josefsgrab bei Nablus an, eine jüdische Gedenkstätte im Westjordanland. Gleichzeitig wurden seit Anfang Oktober mehr als 30 Palästinenser getötet, knapp die Hälfte davon Attentäter, die im Zuge ihrer Anschläge erschossen wurden. Die anderen starben, so wie Ahmad, bei Unruhen im Westjordanland oder bei Zusammenstößen mit dem israelischen Militär am Grenzzaun zum Gazastreifen - wie auch am Freitag, als ein 20-jähriger Palästinenser erschossen worden ist.
Angst, vergessen zu werden
Im Westjordanland und in Ostjerusalem erhält man nur eine Antwort auf die Frage, was die jungen Palästinenser antreibt: der Verlust jeglicher Hoffnung. Seit dem Abbruch der von US-Außenminister John Kerry angetriebenen Friedensgespräche im Vorjahr gab es keinen neuen Vorstoß mehr, um den Israel-Palästina-Konflikt politisch zu lösen. "Wenn es ein Ziel vor Augen gibt, kann man frustrierende Situationen aushalten", sagt Abdullah, dessen Café viele Jugendliche besuchen. Jetzt aber fühlt man sich von der internationalen Gemeinschaft im Stich gelassen. "US-Präsident Obama fand keine Zeit in seiner UNO-Rede, Palästina auch nur zu erwähnen", sagt Abdullah.
Für die Jungen sei jegliches Licht am Ende des Tunnels, jede Hoffnung auf Frieden und einen eigenen Staat erloschen. Sie hätten genug von der Okkupation, dass sie sich nicht frei bewegen können, von der schlechten Wirtschaftslage durch Blockaden Israels, der Siedlungspolitik, von entwürdigenden Behandlungen durch israelische Soldaten oder dass sie durch den acht Meter hohen Wall voneinander getrennt werden, sagen Abdullahs jugendliche Gäste Bader und Mahmud. Hinzu komme das Gefühl, dass die palästinensischen Behörden ihnen keinen Schutz bieten können - das habe man doch bei dem Angriff auf die Dawabscheh-Familie gesehen. Die Dawabschehs verbrannten in ihrem Haus, nachdem radikale jüdische Siedler nachts Brandbomben darauf geworfen hatten. Und auch Palästinenser-Präsident Mahmud Abbas wirke müde, daher sähen viele keine Alternative, außer selbst aktiv zu werden. Abdullah selbst macht die Situation nachdenklich. "Sogar der IS hat etwas zu verlieren. Die jungen Menschen hier gar nichts mehr."
Hysterie in sozialen Medien
Zusätzlich befeuert wird die aktuelle Eskalation durch soziale Medien. "Heute hat jeder, der rechts einen Stein in der Hand hat, in der linken ein Smartphone", sagt Abdullah. Die palästinensischen Organisationen, die ohnehin momentan als schwach eingestuft werden, haben zu einem sehr großen Teil die Kontrolle über den Informationsraum verloren, Medien werden von der Jugend als nicht glaubwürdig eingestuft. Videos von - auch tödlichen - Übergriffen der israelischen Armee oder jüdischer Siedler auf Palästinenser verbreiten sich in kürzester Zeit auf Facebook und YouTube, sie werden tausendfach geteilt. Dass sie oft von schlechter Qualität und wenig aussagekräftig sind, scheint keine Bedeutung zu haben. So baut sich in kürzester Zeit eine kollektive Hysterie auf, in der sich alle Palästinenser bedroht fühlen.
Dass jegliches Vertrauen zwischen Israelis und Palästinensern fehlt, liegt aber auch daran, dass die wenigsten dieser jungen Generation - im Gegensatz zu ihren Eltern, die durchaus auch von positiven Erlebnissen berichten - persönlichen Kontakt zu Israelis hatten oder haben. "Palästinenser unter 25 verbinden mit Israel Panzer, Drohnen, Zerstörung und Angst", sagt Pierre Krähenbühel, UNO-Generalkommissar für Palästinaflüchtlinge. Auch Ahmad, sagt sein Bruder, habe in seinem Leben kein einziges Mal mit einem Israeli gesprochen.
Fast alle treibt auch der Streit um den Tempelberg in Jerusalem an. Fragt man Palästinenser, worin sie sich von den anderen Arabern in der Region unterscheiden, so antworten sie, dass sie die Hüter der Al-Aksa-Moschee, der drittheiligsten Stätte im Islam sind. Der Ort, an dem die Al-Aksa-Moschee steht, ist aber auch den Juden heilig. Vor allem seit der Zugangssperre auf den Tempelberg für Muslime Mitte September während des jüdischen Neujahrsfests befürchten die Palästinenser, sie könnten die Kontrolle über den heiligen Ort verlieren. Der Disput gilt als einer der Auslöser der Messerangriffe auf Israelis.
Zu den Messerangriffen selbst wollen sich die wenigsten Palästinenser äußern. "Das sind doch alles nur Kinder, manche von ihnen sind einfach noch nicht reif, manche stechen nicht einmal zu", wiegelt Wael Rasim, ein Bewohner Ostjerusalems, ab. "Nehmen wir den Jungen, der eben hier um die Ecke vor dem Damaskus-Tor von den Israelis erschossen wurde. Auch wenn er wirklich ein Messer gehabt hätte, so hätte doch eine Kugel gereicht, um ihn zu stoppen. Wieso zehn?" Dass auf den israelischen Sicherheitskräften aktuell enormer Druck lastet, dazu zuckt er kurz mit den Schultern. Er jedenfalls habe sicherheitshalber jetzt seine Kinder zuhause eingesperrt. Ob es ihn denn nicht schockiere, dass 16-jährige Palästinenser zu Messer-Angriffen fähig sind? Wael schüttelt den Kopf. "Ich kann nur eines sagen: Wir wollen Frieden. Wir wollen niemandem wehtun. Wenn die Israelis verschwinden, werden wir niemanden anrühren."
Wael erwartet nicht, dass die Gewalt schnell wieder abflauen wird. Die Jugend sei unberechenbar. Und gerade Vorfälle wie der Tod des 13-jährigen Ahmads aus dem Dschalazun-Camp würden die Palästinenser auf die Straße treiben. "Die Intifada ist bereits im Gange, sie ist real", sagt Wael. So wird es wohl nicht lange dauern, bis der nächste Märtyrer zu Grabe getragen wird."