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Die Unbeugsamen von Stuttgart

Von Christoph Rella aus Deutschland

Europaarchiv
Bitterkalter Widerstand: Seit Wochen campieren die Bahnhofsgegner nun schon im Schlossgarten. Foto: rella

Trotz Minusgraden halten Aktivisten den Bauplatz im Schlossgarten besetzt. | Protest trifft in der Bevölkerung nach wie vor auf Verständnis. | Stuttgart. "Da müssen die schon hochkommen und uns holen." Gekonnt öffnet Michael den Karabiner an seiner Kletterausrüstung und wirft noch mal einen kurzen Blick zurück hinauf in die Baumkrone. Dort oben, in einem Baumhaus in 25 Metern Höhe, ist seit ein paar Monaten sein zweites Zuhause. Die Aussicht über den Schlossgarten, vor allem auf anrückende Polizisten sei gut, meint er und vergräbt seine Hände tief in den Hosentaschen. Es ist bitterkalt an diesem Dezembertag. Der Boden des Rasens ist aufgeweicht und matschig.


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Aber das macht den Demonstranten der Umweltschutzorganisation "Robin Wood", die hier seit August gegen den Bau des äußerst umstrittenen Bahnhofs "Stuttgart 21" protestieren, nichts aus. Und Aufgeben kommt für sie trotz des Schlichterspruchs des Vermittlers Heiner Geißler, der sich Ende November für den Bau ausgesprochen hatte, nicht in Frage.

"Derzeit haben wir vier Bäume besetzt", erklärt Michael. Davor, dass das Areal wie vor wenigen Wochen wieder gewaltsam geräumt werden könnte, hat der 36-jährige Physiotherapeut keine Angst, denn so knapp nach dem Ende des Schlichtungsprozesses sei man wohl noch ungefährdet. "Aber wir bleiben wachsam", sagt Michael.

Leben unter Planen

Es wäre nicht das erste Mal, dass in Stuttgart ein Bahnhof unter Ausnahmebedingungen errichtet würde. So wurde etwa der alte Kopfbahnhof, wie es in einer Inschrift über dem Hauptportal heißt, noch "unter König Wilhelm II. während des Krieges 1914-1917 erbaut". Heute, knapp 100 Jahre später, soll unter dem denkmalgeschützten Bau eine Durchgangsstation mit acht Strecken- und Bahnsteiggleisen realisiert werden. "Der Kopfbahnhof ist an die Grenzen seiner Belastbarkeit gelangt und daher dringend sanierungsbedürftig", argumentiert Projektsprecher Wolfgang Drexler von der Deutschen Bahn immer wieder. Vom Vorschlag der Gegner, die bestehenden Anlagen zu renovieren, hält er nichts: "Die Kosten dafür liegen bei 3,7 Milliarden Euro. Ein Neubau würde hingegen nur 400 Millionen Euro mehr kosten."

Von solchen Summen kann Markus, Aktivist der Protestgruppe "Parkschützer", nur träumen. Seit drei Monaten lebt der Arbeitslose in seiner "Schirmburg" im Zentrum des Schlossgartens. Da das Aufstellen von Zelten gesetzlich verboten ist, campiert er nun bei Minusgraden unter Sonnenschirmen und Planen. "Wir leben hier im Ausnahmezustand", sagt der 46-Jährige und verweist auf seine Habseligkeiten: Ein Campingkocher, ein Klappsessel und ein Schlafsack. Seit die Stadtwerke das öffentliche WC in der nahen U-Bahn-Station für die Demonstranten gesperrt haben, ist Markus auf die Gunst der Geschäftsleute angewiesen. Zudem wird er von der Bevölkerung mit Spenden und Essen versorgt.

Bei der Bevölkerung stößt der Protest der unnachgiebigen Aktivisten großteils auf Verständnis. "Ich finde das angemessen", meint ein Pendler, der sich gerade auf dem Heimweg befindet. Seine größte Sorge sind allerdings nicht die hohen Kosten, sondern die Dauerbaustelle. "Das ist nicht notwendig, aber wie es scheint, ist ja rechtlich schon alles gelaufen", sagt der 52-Jährige resignierend. In dieselbe Kerbe schlägt auch die 19-jährige Studentin Manuela: "Das Projekt wurde hinter verschlossenen Türen ausgemacht, und damit ist es nicht demokratisch legitimiert", klagt sie - und fordert eine Volksabstimmung.

Bei der Deutschen Bahn will man davon nichts wissen und stützt sich auf das Schiedsurteil des von Befürwortern und Gegnern eingesetzten Schlichters Geißler. Dieser hatte nicht nur den weiteren Ausbau von "Stuttgart 21" abgesegnet, sondern auch eine Befragung der Stuttgarter Bevölkerung als "unrealistisch" bezeichnet.

Für die Aktivisten im Schlossgarten kommt der Schiedsspruch allerdings einer Kapitulation gleich. "Wir bleiben hier", erklärt Michael kämpferisch. "Wir sind mit unseren Leuten per SMS in Kontakt und können im Notfall die Bäume binnen weniger Minuten besetzen." Und wenn die Polizei den Park erneut räumt? "Dann kommen wir wieder!"