Vor vier Jahren lag die Wahlbeteiligung bei 75 Prozent. Wer sind jene, die daheim bleiben. Und warum?
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Wien. Vor vier Jahren war es schon ein Viertel. Rund 25 Prozent der Wahlberechtigten nahmen bei der vergangenen Nationalratswahl ihr Stimmrecht nicht in Anspruch. Seit 1992 stellt das auch kein Verwaltungsvergehen mehr dar, davor gab es noch eine Wahlpflicht. Doch schon in den 1980er Jahren ist die Beteiligung unter 90 Prozent gesunken, danach mit einigen Aufs und Abs weiter zurückgegangen. Im Vergleich zu anderen Ländern sind zwar auch 75 Prozent noch ein recht hoher Wert, dennoch wird die Wahlbeteiligung auch hierzulande immer mehr zum Thema.
Zunächst einmal natürlich für die Parteien selbst. Sie kämpfen nicht nur gegen andere Parteien, sondern müssen auch darauf bedacht sein, die eigene Wählerschaft ausreichend zu mobilisieren. Das ist zum Beispiel der SPÖ bei der vergangenen Nationalratswahl von allen Parteien am wenigsten gelungen, sie verlor laut Analyse von Sora saldiert rund 126.000 Wähler an die Nichtwähler. Bei der Wahl 2008 hatte die ÖVP die meisten Stimmen an dieses Lager verloren.
Die Forscher von Sora, die Wählerströme untersuchen, gleichen dabei auch Sprengelergebnisse ab. In die Gruppe der Nichtwähler fallen deshalb zum Beispiel auch verstorbene Personen. Und da SPÖ und ÖVP im Wählersegment der Älteren überproportional viele Wähler haben, ist es nur logisch, dass diese zwei Parteien allein dadurch mehr Stimmen verlieren als andere. Aber das erklärt natürlich nur einen Teil des Abgangs.
Peter Hajek von Public Opinion Strategies hat in Befragungen die Motive für das Nichtwählen erkundet. An der Spitze (35 Prozent) steht dabei die Aussage, dass die eigene Stimme ohnehin nichts ändern würde, gefolgt von politischem Desinteresse (31 Prozent) und Politikverdrossenheit (27 Prozent). "Eine hohe Wahlbeteiligung ist aber nicht per se Ausdruck von demokratischer Reife", sagt Hajek. Demokratiepolitisch bedeutend ist aber die Betrachtung nach sozio-ökonomischen Merkmalen. So zeigt die Befragung von Hajek, dass 83 Prozent der Nichtwähler über keine Matura (oder einen höheren Abschluss) verfügen. Dazu kommt, dass Jüngere signifikant überrepräsentiert sind, Männer gegenüber Frauen zumindest leicht, ebenso Städter gegenüber ländlichen Bewohnern.
In Deutschland, wo sich die Wahlbeteiligung ähnlich entwickelt hat, 2009 sogar auf nur 70 Prozent gefallen ist (2017: 76,2 Prozent), wird dieser Aspekt deutlich intensiver diskutiert und auch beforscht als hierzulande. Die bisherigen Erkenntnisse kann man als dramatisch bezeichnen. Denn es zeigt sich, dass sich Personen an den unteren Rändern der Gesellschaft besonders stark aus dem demokratischen Prozess herausnehmen.
Einkommen ist wesentlich
Bei Vergleichen von einzelnen Stadtvierteln, in denen besonders viele bildungsarme und einkommensschwache Menschen wohnen beziehunsgweise die umgekehrten Vorzeichen herrschen, lag die Wahlbeteiligung bis zu 20 Prozentpunkte auseinander. Das ist schon massiv.
Florian Oberhuber von Sora ortet diese Entwicklung auch in Österreich, er sagt aber: "Es ist bei uns besser gelungen, diese Menschen drin zu behalten." Überrepräsentiert seien arme Menschen allerdings sehr wohl in der Gruppe der Nichtwähler.
"Diese Debatte kommt aus dem anglosächsischen Raum", erklärt Martin Schenk von der Armutskonferenz. In den USA müssen sich Wähler registrieren lassen, deshalb ist die Datenlage deutlich besser. "Das unterste Dezil wählt in den USA nur zu fünf Prozent", sagt Schenk. Auch wenn dies in Europa allgemein und speziell in Österreich nicht so markant ist, stellt sich natürlich auch hierzulande die Frage nach den langfristigen Auswirkungen.
Erst vor wenigen Wochen ist in Deutschland eine neue Studie zum Wahlverhalten von langzeitarbeitslosen Personen erschienen, die vor allem die Motive dieser Bevölkerungsgruppe untersucht hat. Das Fazit: Die Menschen wählen nicht, weil sie sich von niemandem repräsentiert fühlen, weil sie glauben, dass ihre Probleme von der Politik nicht gesehen und nicht behandelt werden.
Arme nicht vertreten
"Das stellt natürlich ein Problem dar, wenn sich diese Gruppe nicht beteiligt", sagt Peter Hajek. Denn naturgemäß gibt es hier eine gewisse Reziprozität. Wenn immer weniger arme Menschen zur Wahl gehen, wird es in der Tendenz immer weniger Politiker geben, die sich den Anliegen ökonomisch benachteiligter Gruppen annehmen. Was infolge dann wiederum das Gefühl bei jenen Menschen verstärkt, nicht gehört zu werden.
Dazu kommt - in Österreich wie in Deutschland -, dass sich in diesem Bevölkerungssegment überproportional viele ausländische Staatsbürger finden. So liegt etwa die Arbeitslosigkeit unter Türken in Österreich bei rund 20 Prozent und damit mehr als dreimal über der Quote von Inländern. Ausländische Arbeitskräfte arbeiten wiederum häufiger in schlecht entlohnten Jobs, dazu kommen Flüchtlinge, die ebenfalls meist prekär leben. Sie alle haben kein Wahlrecht, Beschlüsse im Nationalrat haben aber natürlich auch auf sie und ihr Leben einen Einfluss.
In Wien steht am Sonntag auch erstmals eine Partei auf dem Stimmzettel, die sich explizit an Menschen richtet, die ökonomisch ganz unten stehen: Obdachlose. Die ODP ("Obdachlose in der Politik") kandidiert, weil sich "niemand um diesen Bereich kümmert", wie sie sagt. Die Caritas ist eine jener Organisationen, die das sehr wohl tut, und zwar auch in Bezug auf Wahlen. So hat die Caritas vor der Bundespräsidentenwahl Obdachlose in ihren Betreuungseinrichtungen darüber informiert, dass sie sich aktiv in die Wählerevidenz eintragen lassen müssen, um auch ohne festen Wohnsitz wählen zu können. Von 4200 Personen haben 3000 dieses Angebot angenommen.