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Die unsichere Zukunft syrischer Flüchtlinge in der Türkei

Von Martyna Czarnowska

Politik

Mehr als 3,6 Millionen Syrer haben Zuflucht in der Türkei gefunden. Doch die anfängliche Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft schwinden.


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Etwas windschief stehen sie da, schmiegen sich an den Hügelhang, stapeln sich übereinander. Die weiß getünchten Häuschen mit dem roten Ziegeldach und den sich bereits herbstlich verfärbenden Bäumen dazwischen könnten an ein Bergdorf erinnern. Würden dahinter nicht die neu hochgezogenen zwanzigstöckigen Wohnblöcke aufragen. Und würde es sich nicht um ein Viertel in Ankara handeln.

Die Hauptstadt der Türkei, die die Metropole mit ihren inzwischen mehr als fünf Millionen Einwohnern vor hundert Jahren noch nicht war, bildete damals selbst nicht viel mehr als eine Kleinstadt. Rund 25.000 Menschen lebten dort, die Gebäude duckten sich im Schatten der alten Zitadelle. Noch Jahrzehnte später, als sich Ankara immer weiter ausbreitete, errichteten Neuankömmlinge ihre Häuser auf den Hügeln, wo gerade Platz war - oft ohne sich um eine Erlaubnis zu kümmern.

Etliche dieser Siedlungen wurden und werden abgerissen. Ein Argument dafür ist den türkischen Behörden nicht zuletzt die mangelnde Erdbebensicherheit der Gebäude. Die Bewohner sollen in die neuen Wohnhäuser einziehen, die schon rundherum errichtet werden.

Doch manche der Viertel werden noch einige Zeit bestehen. Es sind keineswegs Slums oder Ghettos, ohne Kanalisation, Strom und Gas. Es sind schlicht ärmere Vororte, aus denen sowieso wegzieht, wer es sich leisten kann. Denn ins Stadtzentrum ist es weit, die kaum befestigten Straßen sind steil und holprig. Nicht alle Häuser stehen dann aber leer. Manche werden vermietet - etwa an Familien, die aus dem benachbarten Syrien geflohen sind.

In einem der zweistöckigen Häuschen lebt seit fünf Jahren Hüseyin Elizzaddi mit seiner Frau. Sein Enkelsohn ist mit der Familie in das erste Stockwerk gezogen. Elizzaddis kleines Wohnzimmer ist mit Sofas und Polstersesseln vollgestellt, im Eck steht ein Kohleofen, ein alter Fernseher läuft. 2013 ist sein Haus in Rakka, im Norden Syriens, bombardiert worden, acht Familienmitglieder starben dabei - Kinder, Enkelkinder. Der damals 69-Jährige war gerade draußen. Seine Frau wurde zwar verletzt, überlebte aber. Mit ihr floh Elizzaddi in die Türkei, gelangte illegal über die Grenze, durch einen Tunnel. Knapp hundert Euro zahlte er dem Schlepper. Er ging nach Ankara, weil eine Tochter und zwei Söhne bereits dort waren. Einer von diesen arbeitet als Tischler. Eine andere Tochter lebt im Libanon, ein Sohn ist noch immer in Syrien, in Aleppo.

Elizzaddi würde auch gern wieder in Syrien sein. "Wenn es dort sicher wäre, wenn ich dort leben könnte, wäre ich der Erste, der zurückkehrt", erklärt er. "Wir lebten gut vor dem Krieg." In seiner Heimat arbeitete er als Fahrer bei der Feuerwehr, die Familie besaß ein Haus, einen Garten.

"Hier aber bin ich abhängig davon, was ich bekomme", sagt Elizzaddi. Er und seine Frau erhalten 240 türkische Lira (knapp 40 Euro) monatlich aus einem Sozialprogramm, an dem sich die Europäische Union finanziell beteiligt. Manchmal gibt es einen Essenskorb und Kohle zum Heizen von den türkischen Behörden. Die Möbel haben türkische Nachbarn gebracht.

"Gast" ist kein Aufenthaltstitel

Die anfängliche Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft der Türken fanden unter vielen Syrern Anerkennung. Millionen Menschen sind seit Beginn des Krieges in Syrien vor gut acht Jahren ins Nachbarland gelangt. 3,6 Millionen syrische Flüchtlinge sind in der Türkei registriert, und hunderttausende Menschen mehr halten sich wohl ohne Dokumente dort auf. Die wenigsten von ihnen sind in Flüchtlingslagern untergebracht, die meisten zieht es in große Städte wie Istanbul und Ankara, wo sie kleine Geschäfte eröffnen oder in Textilfabriken arbeiten. Im Südosten des Landes gibt es auch Beschäftigung am Bau oder in der Landwirtschaft. Meist ohne Anmeldung und Versicherung: Der informelle Sektor macht in der Türkei fast ein Drittel des Arbeitsmarkts aus.

Auch wenn sie in solchen Jobs leicht ausgebeutet werden können, haben Syrer in ihrem Nachbarland durchaus gewisse Rechte. Anfangs wurden sie in Medien und von Politikern immer wieder "Gäste" genannt. Doch ist "Gast" kein Aufenthaltstitel. 2015 erhielten registrierte syrische Flüchtlinge einen besonderen Status und damit Zugang zum Gesundheits- und Bildungswesen. So sollte die Schulpflicht in der Türkei auch für Syrer gelten. Laut Bildungsministerium besuchen mehr als 600.000 Flüchtlingskinder die Schule - 400.000 aber nicht.

Ines’ Kinder, drei von ihnen, gehen in die Schule. Sie sind zehn, fünfzehn und 17 Jahre alt - ein Bub, zwei Mädchen. Die zwei ältesten Töchter, 19 und 20 Jahre alt, sind bereits verheiratet. Ines ist 35 Jahre alt und schon Großmutter. Ihren vollen Namen möchte sie nicht genannt wissen. Die Bitte um Anonymität ist häufig: Manche Syrer sorgen sich um die Sicherheit ihrer Verwandten, die noch in der Heimat leben.

Das Viertel in Ankara, in dem Ines wohnt, wird "Klein-Aleppo" genannt. Auch sie ist aus dieser Stadt geflohen, mit ihren Kindern, aber ohne Mann, von dem sie geschieden war. Zunächst kam die Familie für ein paar Monate bei Verwandten unter, dann zog Ines in eine andere Wohnung. Sie verdient etwas Geld mit einfachen Näharbeiten, erhält Unterstützung aus dem gleichen Sozialprogramm wie Hüseyin Elizzaddi.

Während Ines erzählt und ihr Sohn Muhammed neben ihr auf dem Sofa sitzt, kommt die jüngste Tochter herein. Sedra ist fünfzehn Jahre alt, möchte die Schule beenden und studieren. Als ihr Lieblingsfach gibt sie Türkisch an. Sie will Ärztin werden. Ob sie diesen Beruf in der Türkei oder woanders ausüben möchte, weiß sie nicht. An ihre Heimat kann sie sich kaum erinnern: "Wir hatten eine silberne Tür und einen Garten."

Doch auch Ines fühlt sich hin- und hergerissen: "Manchmal überlege ich, ob wir dableiben oder weggehen sollen." Eine Schwester von ihr wohnt in Belgien, dort soll die staatliche Unterstützung viel besser sein.

Chance auf Bildung

2015 dominierte die Flüchtlingskrise die Debatten in Europa. Die Menschen strömten über Italien, die Türkei, Griechenland und über die Balkan-Route in den Norden und Westen. 2016 schlossen die EU-Staaten mit der Türkei ein Flüchtlingsabkommen. Ankara verpflichtete sich, Flüchtlinge von der Überfahrt nach Europa abzuhalten und die Grenzen des Landes zu sichern. Im Gegenzug gab es von den Europäern politische und finanzielle Zusagen. So sollten sechs Milliarden Euro, in zwei Tranchen geteilt, in Flüchtlingshilfe in der Türkei fließen.

Ein gutes Drittel davon ist für humanitäre Hilfe vorgesehen, darunter eben das Sozialprogramm ESSN, das die EU mit dem Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen und dem türkischen Roten Halbmond umsetzt. Es ist das größte derartige Projekt der EU bisher: Fast 1,7 Millionen Menschen haben den Ausweis in der Form einer Bankomatkarte erhalten, die mit 120 türkische Lira (rund 20 Euro) pro Monat und Person aufgeladen wird. Für Schulkinder gibt es zusätzliches Geld, ebenso für Ausbildungsprojekte, die die EU finanziert und mit diversen Partnerorganisationen realisiert. Die Mittel gehen direkt dorthin und nicht ins türkische Budget, wie EU-Vertreter betonen.

Einige der Kinder an der Fatih-Sultan-Mehmet-Volksschule in Ankara erhalten diese Zuschüsse. Es ist gerade Pause, und im Schulhof ist es so laut, wie es eben ist, wenn hunderte Kinder herumtoben. Alle tragen die blaue Schuluniform, viele der Mädchen auch Kopftuch. Als die Glocke läutet, laufen die Kinder rein, setzen sich hinter die Pulte. Sie üben das Zählen und Runden in Zehnerreihen.

Nach Schulangaben werden hier 906 Mädchen und Buben unterrichtet. Noch vor zwei Jahren seien es doppelt so viele und im Vorjahr 1400 Schüler gewesen. Derzeit kommen 570 Kinder aus Syrien, ebenso wie sieben freiwillige Assistenzlehrer.

Diese Sieben- bis Zehnjährigen, die fast ihr gesamtes Leben in der Türkei verbracht haben, haben gute Chancen darauf, ihre Ausbildung lückenlos fortzusetzen, vielleicht sogar zu studieren. Doch ältere Kinder, die durch die Flucht der Familie Schuljahre versäumt haben und erst einmal Türkisch lernen müssen, befinden sich in einer schwierigeren Situation. Und wenn sie dann 14, 15 Jahre alt sind, ist das Thema Schule manchmal sowieso schon abgeschlossen. Buben sind dazu angehalten, zum Familieneinkommen beizutragen, und Mädchen werden verheiratet. Offizielle Zahlen gibt es zwar nicht, doch dürften das mehr als rare Einzelfälle sein.

Angriffe auf syrische Geschäfte

Die Altindag Volksbildungs- und Berufsschule ist eigentlich auf Weiterbildung ausgerichtet. Doch nun bietet sie auch Kurse für Jugendliche aus Flüchtlingsfamilien an. In einer Klasse sitzen ein gutes Dutzend Mädchen, 13 bis 16 Jahre alt, und lernen Türkisch. Alle, bis auf die jüngste, tragen ein Kopftuch - ebenso wie die Lehrerin. Vor zehn Jahren noch war das verboten, an Schulen, Universitäten, in öffentlichen Gebäuden wie Parlament, Gericht oder Amt. Doch hob die im Islam verwurzelte konservative Regierung unter dem damaligen Premier Recep Tayyip Erdogan den Kopftuchbann sukzessive auf. Und im Straßenbild sind die schwarzen Nikabs der syrischen Frauen, die lediglich die Augen frei lassen, mittlerweile auch keine Seltenheit mehr.

Drinnen, in der Mädchenklasse, sind freilich alle Gesichter zu sehen. Auf die Frage, welche der jungen Frauen auf die Universität gehen möchte, hebt sich zunächst eine Hand. Danach, einer Ermunterung folgend, strecken sich schon mehr Arme in die Höhe. Ärztin, Lehrerin, Malerin, Bäckerin lauten die Berufswünsche.

Aaina möchte Polizistin werden. In der Türkei oder in Syrien? Aaina zuckt die Schultern. "Ich beende nächstes Jahr diesen Kurs, und dann werden wir sehen." Sie ist 16 Jahre alt, hat sieben Schwestern und zwei Brüder. Ihr Vater, in Syrien auf dem Bau beschäftigt, kann nicht mehr arbeiten. Einer seiner Söhne ist in einer Möbelfabrik tätig, vier Töchter sind verheiratet. Auch Aainas Vater würde in die Heimat zurückkehren, wenn es möglich wäre, meint er in einem Gespräch nach dem Unterricht. "Wir vermissen unsere Familien, unsere Felder." Von Problemen im Gastland möchte er dennoch nicht reden. Sie hätten gute türkische Nachbarn.

Doch gestaltet sich das Zusammenleben nicht immer harmonisch. Die Türkei rutscht in eine Rezession, die Inflation treibt die Lebenshaltungskosten in die Höhe, und so manchen verleitet das dazu, die Flüchtlinge für die Misere mitverantwortlich zu machen. In Istanbul und anderen Städten entlud sich die Spannung in einigen Angriffen auf syrische Geschäfte.

Politiker spüren die sich in Teilen der Bevölkerung wandelnde Stimmung. In Istanbul, wo die oppositionelle, national-laizistische Partei CHP regiert, werden Razzien durchgeführt und nicht dort registrierte Syrer in jene Provinzen geschickt, in denen sie sich angemeldet haben. In Ankara droht Staatspräsident Erdogan den Europäern immer wieder damit, dass er "die Tore öffnen" und die Flüchtlinge in die EU ziehen lassen werde.

Weit lieber würde er allerdings einen anderen Plan umsetzen. Er fordert die Schaffung einer "Sicherheitszone" entlang der türkischen Grenze zu den Kurdengebieten im Norden Syriens. Städte und Dörfer könnten dann dort gebaut und eine Million Syrer aus der Türkei dorthin umgesiedelt werden, vielleicht auch zwei Millionen Menschen, wenn das Gebiet ausgedehnt würde. Kritiker des Vorhabens sind überzeugt, dass Erdogan die Kontrolle über die Region übernehmen möchte, um die syrischen Kurden von der Grenze zurückzudrängen.

Prothesen für Kriegsopfer

Die Stadt Reyhanli, in der Provinz Hatay, liegt knapp 700 Kilometer südöstlich von Ankara. Syrien erstreckt sich gleich hinter den Bergen; der Grenzwall, den die Türken bauen, ist gut sichtbar. Dahinter steckt Luais Familie fest: Mutter, Vater, sieben Brüder und Schwestern, die jüngste von ihnen ist fünf Jahre alt. Die Menschen sind, wie viele andere, aus Idlib geflohen, durch die Kampfhandlungen wurden sie immer mehr an die Grenze zur Türkei gedrängt, in selbst gezimmerten Behausungen harren sie dort aus. "Die Gegend hier ist überfüllt", sagt Luai und meint die Region auf beiden Seiten der Grenze, die so gut wie immer geschlossen ist. Der knapp Dreißigjährige hat aber die Erlaubnis, sie manchmal zu passieren. Er arbeitet in einem Rehabilitationszentrum in Reyhanli und mit zwei weiteren solchen Einrichtungen in Syrien zusammen. So konnte er am Vortag seine Familie besuchen.

Luai selbst ist vor fünf Jahren in die Türkei gekommen. Da hat der Ingenieur eine weitere Ausbildung abgeschlossen, zum Orthopädietechniker. Mittlerweile hat er auch die türkische Staatsbürgerschaft. Nun hilft er seinen Landsleuten, denen Bomben und Raketen Arme und Beine weggerissen haben.

Das Rehabilitationszentrum in Reyhanli wird unter anderem von den Nichtregierungsorganisationen NSPPL (Syrisches Projekt für prothetische Körperglieder) und Relief International betrieben und ebenfalls von "Echo", der EU-Abteilung für humanitäre Hilfe, finanziell unterstützt. 35 Menschen arbeiten dort, Physio- und Psychotherapeuten, vor allem aber Techniker, die die Prothesen entwerfen, herstellen, anpassen. In den vergangenen zwei Jahren haben sie rund 800 Menschen mit künstlichen Körperteilen versorgt. Drei bis sechs Monate müssen die Opfer auf eine Behandlung warten; die Liste ist lang.

"Ich will gut gehen lernen"

In einem Kämmerchen hockt Ahmed auf einem Spitalsbett. Er soll heute seine Beinprothese bekommen. Er war mit seinem Vater im Garten, als die Bombe neben ihnen explodierte. An viel mehr erinnert er sich nicht. 2012 war das, damals war Ahmed 15 Jahre alt. Sein rechtes Bein wurde danach jahrelang behandelt, die Ärzte versuchten, es zu retten - auch noch in der Türkei, wohin Ahmed mit seinen Eltern 2015 gekommen ist und wo schon seine Geschwister lebten. Vor eineinhalb Jahren dann wurde die Amputation oberhalb des Knies unumgänglich. Danach war die lange Zeit der Schmerzen beendet, erzählt Ahmed. Mittlerweile sei das verstümmelte Bein ein Teil von ihm.

Zunächst saß Ahmed im Rollstuhl, danach benutzte er Achselkrücken, schließlich Unterarmstützen. Vor einem Monat wurde nach genauen Abmessungen seine Prothese angefertigt, nun muss sie ausprobiert werden. Und danach: Welche Pläne, Träume hat er? Ahmed weiß mit der Frage nicht viel anzufangen. "Früher hatte ich Träume, jetzt nicht mehr. Ich will gut gehen lernen, einen Job finden, vielleicht eine Familie gründen."

Neben dem Zimmer, in dem Ahmed sitzt, befindet sich ein Rehabilitationsraum. An einer Doppelstange können sich die Menschen festhalten, wenn sie ihre Prothesen testen; in dem hohen Spiegel am Ende des Geländes ihre Bewegungen beobachten. Ein zehnjähriger Bub geht auf und ab, auf und ab, seine Mutter sieht zu. Ein Therapeut will einen jungen Mann stützen, der sich frei bewegen möchte - aber der schafft es allein.

Auch Hanadi braucht keine Hilfe mehr. Leicht humpelnd betritt sie mit ihrem zweijährigen Sohn auf dem Arm das Zentrum. Sie hat noch einen zehnjährigen Buben und eine zwölfjährige Tochter. Ihr Mann arbeitet in einem Restaurant. Sie stammen aus Homs, ihr Haus wurde 2014 bombardiert, Hanadi verlor ihr linkes Bein. Drei Jahre später kamen sie in die Türkei. Zurück nach Syrien möchte die Frau nicht. Sie wünscht sich eine gute Ausbildung für ihre Kinder. Welche? Für die Älteren habe sie sich das noch nicht überlegt. Aber der Kleine hier, sagt Hanadi und lacht, könnte doch Prothesentechnik lernen.

Die Reise erfolgte auf Einladung der EU-Kommission.