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Die unsichtbare Doppelbelastung

Von Sophia Freynschlag

Wirtschaft

Wer zuhause ein Familienmitglied pflegt, verschweigt das oft am Arbeitsplatz


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Wien. "Die Diagnose Pflegefall war im ersten Moment ein Schock", sagt Harald Goldmann. Als sein Bruder verunglückte und danach im Wachkoma lag, war er von heute auf morgen mit der Situation konfrontiert, einen Familienangehörigen zu pflegen.

Wie für Goldmann passiert es oft unerwartet, zum Beispiel durch einen Schlaganfall. Manchmal zeichnet es sich auch während eines Spitalsaufenthalts ab: Mehr als 120.000 Österreicher pflegen ihre Angehörigen zuhause, schätzt die Wirtschaftsuniversität Wien. Der Großteil davon sind Frauen. Teilweise sind sie selbst in Pension, teilweise berufstätig und meist Ende 40 oder in den 50ern.

Zur neuen Herausforderung daheim kommt dann die Frage, wie sich Pflege und Beruf vereinbaren lassen. "Viele sehen keinen anderen Ausweg, als selbst zuhause zu bleiben, wodurch sie eine geringere Pension erhalten", so Birgit Meinhard-Schiebel, Präsidentin der Interessengemeinschaft pflegender Angehöriger.

Viele möchten den Job aber nicht aufgeben, und der Ausstieg aus dem Unternehmen bleibt nur als Notlösung. Verantwortlich dafür ist ein "großes Informationsdefizit", sagt Birgit Meinhard-Schiebel. Gerade in den ersten Wochen als pflegender Angehöriger muss viel organisiert werden. "Ich wusste zunächst nicht, wo ich mich zur Pflege informieren könnte", bestätigt Goldmann.

WU: Pflege kann Mitarbeiter auch produktiver machen

Oft wissen Führungskräfte gar nicht, dass ein Mitarbeiter einen Angehörigen pflegt. Denn obwohl es viele Betroffene gibt, sind "pflegende Angehörige unsichtbar in der Gesellschaft", sagt Birgit Trukeschitz vom Forschungsinstitut für Altersökonomie an der Wirtschaftsuniversität Wien: "Man plaudert in der Kaffeepause mit Kollegen über die Kinder. Über Pflegefälle in der Familie wird nicht gesprochen." Auch Meinhard-Schiebel weiß, dass das Pflegeengagement oft am Arbeitsplatz verschwiegen wird: "Viele Betroffene haben Angst vor einer Kündigung, weil sie in den Augen ihrer Arbeitgeber nicht voll belastbar sein könnten."

Wie eine Befragung der WU unter 900 Erwerbstätigen in Wien ergeben hat, können die in der Pflege erworbenen "Soft Skills" Betroffene jedoch leistungsfähiger als andere Arbeitnehmer machen. Pflege stärkt demnach organisatorische Fähigkeiten, Selbstmanagement und das Vertrauen in die eigenen Kompetenzen, was sich positiv auf die Arbeitsproduktivität auswirken kann. Werden die psychischen Belastungen oder der Zeiteinsatz für Pflege hingegen zu hoch, kommen Betroffene schlechter mit Stress zurecht und die Leistungsfähigkeit sinkt.

Betriebe können ihren Mitarbeitern mit Informationen rund um Pflegegeld und Betreuungsunterstützung helfen. Auch mit flexiblen Arbeitszeiten und der Möglichkeit, von Heimarbeit können Beschäftigte im Betrieb gehalten werden, statt sie aufgrund ihres Pflegeengagements zu verlieren.

Goldmann selbst hatte Glück: mit seinem Chef bei Siemens vereinbarte er flexible Arbeitszeiten.

Vereinbarkeit von Pflege und Job gewinnt an Bedeutung

Familienfreundlichkeit wird von Betrieben mit Kinderbetreuungspflichten verbunden, aber kaum mit der Pflege von Angehörigen. Trukeschitz geht davon aus, dass das Thema Pflege in Firmen künftig virulenter wird: Die Österreicher beginnen aufgrund längerer Ausbildungszeiten später zu arbeiten, sind länger erwerbstätig und Erstgebärende werden älter. Damit steigt die Wahrscheinlichkeit, dass die Eltern pflegebedürftig werden, während man selbst berufstätig ist.

Auch die Schaffung von Pflegeteilzeit und Pflegekarenz, die derzeit in Österreich verhandelt wird, würde Betroffene entlasten. In Deutschland wurde Anfang 2012 die Familienpflegezeit eingeführt, mit der Beschäftigte ihre Arbeitszeit für höchstens zwei Jahre auf bis zu 15 Stunden pro Woche reduzieren können, um nahe Angehörige zu pflegen. Im ersten Jahr wurde das Modell allerdings nicht mehr als 200 Mal in Anspruch genommen.

Der Haken ist unter anderem die kurze zeitliche Befristung: Denn für Betroffene ist nicht absehbar, wie lange ihre Angehörigen Pflege brauchen werden.