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Durch die Gewalteskalation fliehen immer mehr Menschen aus der Ostukraine.
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Kiew/Slawjansk/Mariupol. Wiktor Wladimirowitsch starrt in die Ferne. Der böige Wind schlägt seine Plastiktasche, gefüllt mit Angelködern, gegen das graue Eisengeländer des Fischerstegs in Mariupol. "Meine Kinder sind jetzt weggegangen", sagt er. Die Familie hätte alles Geld zusammengekratzt, "zum Glück haben ich und meine Frau eine gute Pension", um den beiden Kindern einen Start im Ausland zu ermöglichen. "Natürlich gab es die Pläne schon länger", sagt Wiktor. Aufgrund der immer instabiler werdenden Situation in der Ostukraine habe er nun darauf gedrängt, dass sie nicht erst im Herbst, sondern sofort nach Kanada übersiedeln.
Das Migrationsziel von Wiktors Kindern ist freilich die Ausnahme. Massive Migrationsflüsse ins Ausland hat die Ukraine-Krise noch nicht ausgelöst. Im Nachbarland Polen etwa haben laut UN-Flüchtlingswerk UNHCR seit Jahresbeginn 442 Ukrainer Asyl angesucht.
Um ein Vielfaches größer ist jedoch die Masse der Flüchtlinge im eigenen Land. Laut Schätzungen von UNHCR haben die Unruhen bisher rund 10.000 Menschen in die Flucht getrieben. Vertreibungen haben bereits vor dem Krim-Referendum Mitte März auf der Halbinsel begonnen und seither allmählich zugenommen, berichtet UNHCR. Anfangs handelte es sich mehrheitlich um Tataren. Zuletzt wird aber ein Anstieg unter ethnischen Ukrainern, Russen und ukrainisch-russischen Familien gemeldet. Hauptfluchtgründe seien "persönliche Bedrohung" oder "Angst vor Unsicherheit und Verfolgung", sagte UNHCR-Sprecher Adrian Edwards.
Auf Verwandte angewiesen
Und auch wenn lokalen Medien zufolge weiterhin Krim-Bewohner in die Ukraine übersiedeln, kommen nun, seit Kiew den Kampf gegen die Rebellen Anfang der Woche intensiviert hat, die meisten neuen Binnenflüchtlinge aus dem Osten des Landes. "Wir wollten schon lange wegfahren, haben aber bis zuletzt gehofft, dass alles wieder gut wird", sagte eine Bewohnerin von Slawjansk, der Stadt im Osten, in der die stärksten Kämpfe zwischen Armee und Aufständischen im Zuge der "Anti-Terror-Operation" Kiews stattfinden, zum TV-Sender Vicenews. "Vorgestern wurde ständig geschossen und dabei immer wieder Wohnhäuser getroffen. Viele Menschen starben."
Aufgrund der Kämpfe leidet auch die Grundversorgung in den umkämpften Gebieten. Vor allem in der Region Donezk gehe inzwischen der Vorrat an lebenswichtigen Gütern wie etwa Insulin und anderen Arzneimitteln aus, teilte UNHCR mit. Viele Eltern in Slawjansk beklagen zudem, dass ihre Kinder seit April nicht mehr regelmäßig die Schule besuchen können. Aktuell verlassen vor allem Frauen und Kinder die Region - so dies funktioniert, es gibt mehrere Berichte, dass die pro-russischen Aufständischen die Einheimischen daran hindern, die Stadt zu verlassen respektive dafür Geld fordern. Die Männer würden in den umkämpften Gebieten bleiben, um ihr Eigentum nicht zu verlieren.
Viele Menschen kommen bei Verwandten oder Freunden in Regionen der Zentral- und Westukraine unter - sie fallen somit nicht weiter auf. An den Staat können sie sich nicht um Hilfe ansuchen - immerhin würde ein Gesetz, das es innerukrainischen Flüchtlingen erlaubt, sich an den Staat um Hilfe zu wenden, als Zeichen gewertet werden, dass Kiew die Kontrolle über den Osten verloren hat. Dabei könnte Unterstützung benötigt werden: Kaum ein Flüchtling glaubt daran, dass er schnell wieder zurückkehren kann.