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Die unsichtbare Mauer

Von Vea Kaiser

Reflexionen
Die Frauen im Iran – hier eine Studentin in Teheran – müssen in der Öffentlichkeit den Tschador tragen, in den Innenräumen hingegen kleiden sie sich freier.
© Kurt Stier/Corbis

Das Alltagsleben im Iran ist geprägt von strenger Reglementierung im öffentlichen Bereich und mancherlei Freiräumen im Privatleben. Eindrücke von einer Lesereise.


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Einen Vorgeschmack auf das Reiseziel bekommt man oft bereits am Hinflug. In Ferienfliegern riecht es nach Sonnencreme, Richtung Frankfurt tragen alle Krawatte, doch auf dem Flug OS 871, der sechsmal pro Woche nach Teheran fliegt, bin ich verwirrt. Die Einzigen, die sich kurz nach dem Einsteigen Kopftücher umbinden, sind zwei blonde Ethnologie-Studentinnen. Der Rest des Flugzeugs bestellt ordentlich Alkohol. Erst vor dem Aussteigen stecken sich manche Passagiere Kaugummis in den Mund, aus Schals werden Kopftücher, über tief ausgeschnittenen Dekolletés schließen sich die Blusen.

Was darf ich anziehen?

Als ich am Nachmittag den Koffer gepackt habe, um zur Teheraner Buchmesse zu reisen, habe ich festgestellt, dass mein gesamter Kleiderschrank ein einziger Verstoß gegen das islamische Bekleidungsgesetz ist. In Ermangelung weiter Blusen oder Mäntel habe ich schließlich die zurückgelassenen Hemden meiner Ex-Freunde sowie zwei Pyjama-Oberteile eingepackt. Jetzt, in der langen Schlange vor der Passkontrolle, werde ich nervös, ob ich so überhaupt einreisen darf: in Pyjama-Bluse, Leggins und mit einem bunten Schal über den Haaren, der mir jeden Moment vom Kopf rutschen könnte.

"Welcome to Iran", sagt der Passkontrolleur schließlich und gibt mir meinen Pass zurück. Obwohl ich viel über die Gastfreundschaft der Iraner gehört habe, überrascht mich das herzliche Lächeln des Beamten. Bis zu diesem Moment hatte ich gedacht, eine Sache, die überall auf der Welt gleich sei, wäre der griesgrämige Ernst der Immigrationsbeamten.

Eines Besseren belehrt, denke ich mir, während ich auf Herrn Abassi warte, den Fahrer, der mich laut Österreichischen Kulturforum, das mich zur Teheraner Buchmesse eingeladen hat, abholen soll. Etwas später taucht zwischen Männern, die im Tetris-Style beladene Gepäckwägen durch die Halle manövrieren, ein kleiner verschwitzter Herr mit dickem schwarzen Schnauzer und vollem Haupthaar auf: energiegeladen, festes Bäuchlein über der Hose, die gealterte Version von Super Mario. Nach einer Stunde Fahrzeit in seinem Khodro Samand, der iranischen Version des Peugeot 405, verdichtet sich das Gefühl, dass wir nicht Richtung Teheran fahren.

Plakat einer österreichisch-iranischen Literaturlesung in Teheran mit dem Haupt des Ayatollah Chomeini im Hintergrund.
© Vea Kaiser

"No, Teheran is this way. We go to the Esfahan." Schlagartig fällt mir ein, dass ich vor einigen Wochen zugesagt hatte, Isfahan, die berühmte Perle des Iran, sehen zu wollen. Ich hatte damals jedoch nicht damit gerechnet, diesen Sightseeingtrip um drei Uhr morgens, gleich nach meiner Landung, zu beginnen.

"We drive about six hours", sagt Herr Abassi, woraufhin ich tief einatme, mich zurücklehne und zu verdrängen versuche, dass ich nicht in fahrenden Autos schlafen kann. Jetzt muss es sein. Als ich wieder zu mir komme, werden wir langsamer, ehe der Motor ausgeht. Kurz lasse ich die Augen geschlossen und höre die Kofferraumtür aufgehen. "We’re half way", sagt Herr Abassi, "now I need to sleep." Kurz darauf vernehme ich ein sanftes Schnarchen von der Rückbank.

Schlafende Iraner

Das ist also mein erster Eindruck des Iran: um sechs Uhr Früh auf einem Parkplatz mitten in der Wüste gestrandet zu sein, während der einzige Mensch, der weiß, wo ich bin, und den ich soeben erst kennengelernt habe, auf der Rückbank schlummert. Ich steige aus, sehe eine Art Rastzentrum und rundherum Wüste. Ich setze mich auf einen Stein, blicke in die Wüste und die Wüste starrt zurück. Erst als es heller wird, bemerke ich: Auf dem gesamten Parkplatz schlafen Menschen. Auf Rückbänken, Vordersitzen, in kleinen Zelten oder einfach auf Teppichen zwischen den geparkten Wägen. Ganze Großfamilien erwachen, Frauen ziehen mit Teekannen los, Kinder rollen verschlafen auf Polstern herum. Und plötzlich wirkt es völlig selbstverständlich, Rast zu machen, wenn man müde ist. Egal, wo man gerade ist. Ich denke an meine Freunde mit Kindern, die über die Kosten von tragbaren Babybetten und Gitteraufsätzen für Hotelbetten klagen, und frage mich, wann wir Mitteleuropäer das Reisen zu einem logistischen Supergau erhoben haben. Um von A nach B zu kommen, braucht man doch nur einen fahrbaren Untersatz, einen Teppich, Decken, Polster und Tee. Viel Tee.

Tee ist auch das Erste, um das sich Herr Abassi kümmert, nachdem er erwacht ist. Dann fahren wir nach Isfahan, eine Stadt wie aus Tausendundeiner Nacht: prangende Gärten, in denen sich die Vögel Heldensagen erzählen; unzählige Moscheen mit blauen Kuppeln; Paläste, Grabmäler, Minarette, die 33-Bögen-Brücke bei Nacht.

Regeln und Verbote

"Zum Abschied schießen wir Selfies, wie es junge Frauen in New York oder Tokio nicht anders machen." (Vea Kaiser, 2. v. l.)
© Vea Kaiser

Isfahan lehrt mich das Staunen. Die Parkbänke sind leer: lieber legen die Menschen ihre Teppiche ins Gras, bauen den Samowar auf, breiten mitgebrachte Speisen aus, essen, schlafen, und ich glaube für kurze Zeit, am friedlichsten Ort der Welt zu sein. Doch auf dem Imam-Platz holt mich die Realität wieder ein. Rund um den wunderschönen Springbrunnen, der inmitten des riesigen Platzes steht, sitzt eine Gruppe sechzehnjähriger Schülerinnen. Während kleine Buben mit nackten Oberkörpern im Wasser herumplanschen, halten die Mädchen, allesamt mit dem konservativen schwarzem Taschdor, einem Ganzkörper-Umhang bekleidet, nur die Zehenspitzen in den Brunnen. Keines dieser Mädchen wird je im Bikini in der Sonne liegen oder eine Wasserrutsche benutzen. Und das erste Mal spüre ich sie deutlich: die unsichtbare Mauer aus Regeln und Verboten, die das tägliche Leben eingrenzt, beengt, und den Menschen am Ende des Tages nicht erlaubt zu sagen, was sie sagen wollen - geschweige denn es zu tun.

Wie riesengroß der Iran ist, realisiere ich am Rückweg nach Teheran. Mehr Einwohner als Deutschland, und um vom Norden in den Süden zu gelangen, braucht man so lange wie von Moskau nach Madrid. Wir fahren acht Stunden in die Hauptstadt. Man hätte es auch in weniger als sechs Stunden geschafft, aber Herr Abassi hält alle fünfundvierzig Minuten an: mal um zu tanken, mal um Tee zu trinken, meist um Luft in den Hinterreifen zu pumpen. Sobald ich meinen Laptop auspacke, will sich Herr Abassi mit mir unterhalten, jedoch fragt er mich zu oft nach meinem Vater: was er arbeite, ob er gesund sei, ob er rauche, und sicher siebzigmal: ob ich ihm bereits ein Geschenk gekauft habe. Er erzählt mir, dass seine Tochter so alt sei wie ich, und zwischen den Zeilen höre ich heraus, dass er es ihr nie erlauben würde, alleine zu reisen. Und wieder ist sie da, diese unsichtbare Mauer, dieses Gefühl, als Frau nicht die gleichen Rechte zu haben wie ein Mann.

Eine Fahrt durch die Wüste dauert lang. Eine Fahrt durch Teheran dauert länger. Zum einen leben in Teheran mehr Menschen als in ganz Österreich, zum anderen kurven vier Millionen Autos auf den Straßen herum. Fahren kann man das nicht nennen, vielmehr ist es ein Vorankommen um jeden Preis. Jede freie Lücke wird gnadenlos genutzt, bei Kollisionsgefahr wird gehupt, also andauernd. Aus vierspurigen Straßen werden siebenspurige, das Gaspedal ist der beste Freund des Autofahrers und selbst, wenn der Seitenspiegel auf der Strecke bleibt, wird weitergefahren. Die Autos sind aufgrund des Smogs ohnehin so dreckig, dass man Kratzer oder Dellen kaum sieht. An klaren Tagen erheben sich die schneebedeckten 5000er des Elburs-Gebirges wie eine Postkartenkulisse über der Stadt. Wer es sich leisten kann, zieht so weit wie möglich in den Norden, so weit hinauf, wie es die Baugrenze zulässt.

Auch die Österreichische Botschaft, ein majestätisch schöner Palast, vor dessen Visums-Büro sich Menschenmassen drängen, liegt weit oben in den Bergen. Mein Gastgeber, das Österreichische Kulturforum, befindet sich südlicher, am Rand der Altstadt. Während die ÖKFs mancher Länder nur aus drei Bücherregalen bestehen, ist das ÖKF Teheran in einem dreistöckigen Gebäude beheimatet, beherbergt ein Veranstaltungszentrum, eine großartige Bibliothek, Gästeräume und sogar eine Deutsch-Sprachschule. Das ÖKF ist das einzige westliche Kulturinstitut, das nach der Islamischen Revolution 1979 nicht geschlossen wurde. Die österreichischen Diplomaten schafften es, sich zu arrangieren - sie pochten auf die Neutralität. Erwin Lanc war der erste westliche Außenminister, der nach der Revolution den Iran besuchte, und ungeachtet aller Sanktionen sind heute circa 650 österreichische Unternehmen im Iran tätig. Der österreichische Weg eben: Konsens statt Konfrontation. So bedenklich das auf diplomatischer Ebene erscheint, für die Kulturarbeit war es ein Segen. Das ÖKF gilt als Insel der Freiheiten, auf der die Frauen ihre Kopftücher abnehmen, sobald sie durch die Türen treten und mit nackten Schultern in den Kursen sitzen. Ein Ort, an dem alles gesagt, alles gelesen werden darf. Zumindest fast alles. In der Farsi-Übersetzung meines Texts fehlt ein Satz: "Und dann wollte er den Kindern erklären, dass es keinen Gott gibt." Auch wenn das ÖKF einer der größten Kulturveranstalter der Stadt ist, am Ende des Tages steht auch hier die unsichtbare Mauer.

"Weißt du, in der Zensurbehörde arbeiten nicht die schlauen Menschen", erklärt mir anderntags der Übersetzer von Elias Canetti und zeigt mir einen kleinen Zettel. "Das sind die Anmerkungen vom Zensor. Links die Seitenzahl, rechts was ich löschen, was ich umändern muss und welche Worte ich nicht verwenden darf." Auf dem Zettel findet sich keine Anschrift, keine Telefonnummer, nicht einmal der Name des Sachbearbeiters. Die Zensurbehörde diskutiert nicht, sie diktiert, im Falle dieses Zettels Änderungen für "Die Stimmen von Marrakesch". Hauptsächlich geht es um die Tilgung alles Sexuellen, also aller Passagen, in denen es um die Übergriffe der französischen Kolonialherren auf junge marokkanische Buben geht. "Und das ist doch der Irrsinn! Eigentlich wäre es im Sinne der Regierung, einen Bericht über die Schandtaten westlicher Kolonialherren am islamischen Volk zu veröffentlichen. Aber darüber denkt ein Zensor nicht nach. Der macht nur stumm Dienst nach Vorschrift, selbst wenn er seinen Dienstherren damit keinen Dienst tut", sagt der Übersetzer, schüttelt den Kopf und seufzt resigniert. Resignation zu beobachten tut weh. Die meisten Menschen haben sich eingerichtet. Leben mit der unsichtbaren Mauer, glauben nicht, dass sich so schnell etwas ändern wird und schaffen sich deshalb die eigene private Freiheit hinter verschlossenen Türen.

Private Freiheiten

Sobald man Privaträume betritt, wird der Iran ein anderer. Ich hatte damit gerechnet, eine Woche lang nur Tee zu trinken. Doch wohin immer ich eingeladen werde, steht plötzlich Alkohol auf dem Tisch. Im Iran existieren zwei Welten nebeneinander: die Welt der Straße und die Welt des Privaten. So kurze Kleidchen, wie sie unter den Mänteln erscheinen, sobald die Vorhänge zugezogen sind, habe ich seit meiner Großraumdisko-Jugend nicht mehr gesehen. Und ein deutscher Diplomat, der nach Washington versetzt wird, flüstert mir zu: "Amerika wird eine Kur für meine Leber. So viel gesoffen wie im Iran hab ich in meinem Leben nicht."

Und doch: Langsam scheint es auch in der Öffentlichkeit zu tauen. Vor wenigen Monaten starb ein renommierter Mullah. Das Regime konnte mit Müh und Not hundert Menschen für das offizielle Staatsbegräbnis mobilisieren. Wenige Tage später starb ein mittdreißigjähriger Popstar an Krebs. Hunderttausende strömten auf die Straßen, um von ihm Abschied zu nehmen. Die Sicherheitsbeamten waren völlig überfordert, dem Regime fuhr dieses Ereignis bis in die Knochen. Die Jungen sind organisiert. Obwohl Facebook und Co. im Iran offiziell verboten sind, hat es jeder und jede am Handy: eine ganze Generation von Meistern in den Verschlüsselungstaktiken des Netzes. Sie kennen die Freiheit des Internets, und vergessen wir nicht: Der Iran ist ein unfassbar junges Land. 70 Prozent der Bevölkerung sind unter 25 Jahre alt. Wahrscheinlich ist es nur eine Frage der Zeit, bis sich die Jugend ihrer schieren zahlenmäßigen Überlegenheit bewusst wird und beginnt, kraft dieser das Land zu verändern.

In Teheran gehen weniger Prozent der Menschen regelmäßig in die Moschee als in Österreich zur Kirche. Mullah-Witze sind umso beliebter. Dass etwas brodelt, merkt man, wenn man mit den Jungen spricht. Ich bin überrascht, wie viele perfektes Englisch, perfektes Deutsch konnten. Etliche Studenten sind aus dem Ausland in den Iran zurückgekehrt. "Es wird sich nichts ändern, wenn wir alle weggehen. Irgendjemand muss hier bleiben, sich engagieren", sagt Monir, eine junge Architektin, die auf die große Karriere in Kanada verzichtete, um nach Teheran zurückzukommen.

Literarische Gespräche

Den letzten Abend verbringe ich mit meiner iranischen Autoren-Kollegin Negar Taghizadeh und ihren Freundinnen. Wir reden über unsere Texte, über das Leben als Schriftstellerin, und noch Wochen später werde ich mich privilegiert fühlen, dass meine Muttersprache Deutsch ist. Dass ich in einem Land mit Meinungsfreiheit geboren wurde. Im Iran müssen die Autoren zittern, überhaupt gedruckt zu werden. So etwas wie Copyright gibt es nicht, und mit Literatur Geld zu verdienen ist völlig unmöglich.

Und doch: Lesungen sind stets gut besucht, die Zuschauer stellen stundenlang Fragen, sehr kluge Fragen. Literatur hat im Iran einen ganz anderen Stellenwert. Bildung ist das oberste Statussymbol. Ein Kinderspiel geht darum, ein Gedicht aufzusagen, und der Gegenspieler muss daraufhin ein Gedicht rezitieren, das mit dem Buchstaben beginnt, auf den das vorige Gedicht endete. Ich würde in der ersten Runde ausscheiden. Wir lassen den letzten Abend mit selbstgemachtem Wein ausklingen, essen Gemüsesuppe und schießen zum Abschied allerhand Selfies, wie es junge Frauen in New York oder Tokio nicht anders machen. Bevor ich gehe, frage ich Negar, was für eine Botschaft ich mit nach Europa nehmen soll. Sie antwortet:

"Erzähl den Menschen, dass die Iraner, die einfachen Menschen, nicht so sind, wie sie in den westlichen Medien dargestellt werden. Sag ihnen, dass wir die Regierung nicht unterstützen. Sag allen, sie sollen selbst in den Iran kommen. Wir brauchen den Kontakt zur Außenwelt."

Wir drücken uns lange, ehe ich mein Kopftuch aufsetze, den Stoffmantel überziehe und hinausgehe. Und hier ist wieder die unsichtbare Mauer. Denn das tun junge Frauen in New York oder Tokio nicht.

Vea Kaiser, geboren 1988, lebt in Wien, studiert klassische Philologe und ist eine erfolgreiche Romanautorin. 2015 erschien ihr zweiter Roman, "Makarionissi oder "Die Insel der Seligen" im Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln.