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Die öffentliche Verwaltung wird heutzutage vor allem zum Thema, wenn von Einsparungen die Rede ist. Dabei ist eine funktionierende Administration ein wesentlicher Garant für die Demokratie.
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Wiederholt sich die Geschichte? Bereits Max Weber hatte festgestellt, dass der Untergang des antiken Römischen Reichs nicht etwa durch die Völkerwanderungen, den luxuriösen Lebensstil der Eliten oder durch Wirtschaftskrisen hervorgerufen wurde, sondern erst dadurch, dass das besoldete Beamtentum abgebaut worden ist. Die öffentliche Verwaltung wird in den letzten Jahrzehnten ebenfalls ehrgeizig reduziert. Dies ist eine der größten gesellschaftlichen Änderungen der vergangenen 150 Jahre in Europa.
Bis zum Jahr 1989 haben Gesellschaftstheorien das politische Handeln gerechtfertigt und zugleich angeheizt. Seit der Ostöffnung ist das anders. Parteiideologien sind unverbindlich geworden und politische Entscheidungen werden nur mehr aufgrund kurzfristiger Möglichkeiten und pragmatischer Chancen gefällt. Parteien thematisieren Fragen, aus denen sie glauben, Vorteile ziehen zu können, die Auswahl und die Herangehensweise sind beliebig. Sie ändern ihre Profile chamäleonartig und häufig. Die dadurch entstandene politische Gleichgültigkeit in der Bevölkerung wird mit Politikverdrossenheit erklärt - und die Wahlverluste der gemäßigten Mitte mit Wut oder Rache der Wähler. Indessen wird der Grund des Übels übersehen, dass nämlich keine realitätsnahe Gesellschaftstheorie vorhanden ist.
Übersteigerte Konflikte
Denn wie ein Fluch lasten Konflikte auf den Erklärungen über die Gesellschaft. In den letzten hundert Jahren wurden unentwegt Konflikte zwischen Klassen, Rassen, Religionen und Ökonomien verkündet. Keine der Mythen über "antagonistische Klassen", "überlegene Rassen", "unvereinbare Religionen" und "unausweichliche Wirtschaftszwänge" haben sich je bewahrheitet.
Anstatt der Konflikte sollte eher wahrgenommen werden, dass gesellschaftliche Gruppen in einer aufeinander angewiesenen Symbiose leben - und leben müssen. Merkwürdigerweise wurde aus den Gesellschaftsmodellen ausgerechnet das Personal der öffentlichen Verwaltung, welches Spannungen kalmieren oder heraufbeschwören kann, der Reihe nach ausgeblendet.

Am beständigsten hielt sich die Vorstellung der Klassengegensätze. Der donquijotehafte Windmühlen(klassen)kampf wurde verstaatlicht: Auf der einen Seite hievten sich die Unterdrückten an die Macht, um sich selbst zu unterdrücken, auf der anderen Seite schloss man tüchtige Sozialpartnerschaften, um das Fehlen von Kampfhandlungen begründen zu können. Der Eiserne Vorhang spendete einen beruhigenden Schatten, er schuf ein wohltuendes Gleichgewicht und symbolisierte eine überaus verständliche und anwendbare Weltanschauung.
Die Illusion des Klassenkampfes festigte sich durch staatliche Institutionen, als ob sie in Stein gemeißelt wäre. Man spürte zwar, dass dabei etwas nicht stimmt, aber was, das hat man genauso wenig enträtseln können, wie dies Don Quijote bis zuletzt auf seiner Mission nicht gelungen ist. Mit der Ostöffnung zeigte uns die Geschichte selbst, dass dieser Konflikt nicht existiert; Arbeitnehmer und Arbeitgeber sind immer aufeinander angewiesen.
Viele politische Theorien wollten nach 1989 die Welt neu erklären. Eine davon war die "World Polity", die vielleicht das größte Unheil anrichtete, weil damit die Bemühungen der USA beim "Arabischen Frühling" legitimiert wurden. Diese Theorie gilt als ein Ableger des sozialwissenschaftlichen Neoinstitutionalismus. Aufgrund der Ostöffnung nahm man an, dass sich demokratische Werte überall Geltung verschaffen können, sobald diese der Bevölkerung zugänglich sind und ein politisches Machtvakuum entsteht.
Man hätte zumindest wissen müssen, dass es für die Entstehung von Demokratien eine andere wesentliche Voraussetzung gibt: Das Bestehen eines modernen (rationalen) bürokratischen Staates, wie das schon Max Weber gelehrt hat. In theokratisch organisierten Staaten oder Ländern am Stand vorindustrieller Gesellschaften ist Demokratie nicht möglich.
Vulgärökonomie
Bereits seit langem zweifelte die Politik an soziologischen Modellen und zog eine ökonomische Erklärung heran, den Neoliberalismus. Diese Theorie und ihre Verwaltungslehren ("New Public Management", Neues Steuerungsmodell) waren von vulgärökonomischen Rechtfertigungen beseelt.
Die staatliche Verwaltung solle keine Güter mehr produzieren und ihre Dienstleistungen müssten auf Kernbereiche der Staatsverwaltung reduziert werden. Der Staat dürfe lediglich als Auftraggeber fungieren. Dazu wurden Sozialkompetenzen und die Pflichten der Wohlfahrt schrittweise abgelegt. Unter Margaret Thatcher (1979-1990) und Ronald Reagan (1981-1989) wurde diese Theorie zum politischen Programm und radikal durch Tony Blair (1997-2007) und Gerhard Schröder (1998-2005) umgesetzt.
Es herrschte überall Effizienzgeilheit. Der Markt bekam einen götzenhaften Charakter, seine populistisch vereinfachten Gesetzmäßigkeiten wurden als selbstverständlich, eindeutig und unvermeidbar aufgefasst. Die Rentabilität wurde zu einer Rechtfertigungsoase und zur bestimmenden Motivation. Das Ideal des managerhaften Verhaltens wurde staatlich verbreitet und abverlangt. Die Welt schien wieder erklärbar und verstehbar zu sein.
Mit der Weltwirtschaftskrise ab 2007 wurde diese Politik in ihren Grundfesten erschüttert. Es wurde klar, dass das Wirtschaftssystem nur durch groß angelegte geldpolitische Maßnahmen aufrechterhalten werden kann. Die Finanzwirtschaft wurde unterstützt, nicht aber die Realwirtschaft - und nicht die Verwaltung, wodurch das System zwar erhalten, aber nicht repariert wurde. Die Wirtschaftskrise legitimierte den immer zynischeren politischen Wunsch nach einem "schlanken Staat".
Der Abbau der öffentlichen Verwaltung ist aber kein Allheilmittel. Dadurch blüht weder die Wirtschaft auf noch wird die Demokratie gesichert, im Gegenteil, beide werden zersetzt. Ganz im Sinne von "Bartleby, der Schreiber", der berühmten Novelle von Herman Melville aus dem Jahr 1853: Der Kopist Bartleby lehnt zunächst das gemeinsame Korrigieren und dann sukzessive sämtliche Arbeitsleistungen ab, schließlich rationalisiert er auch seine eigenen vegetativen Funktionen weg, sodass er verdurstet und verhungert. Mit dem Managerideal der Wegrationalisierung der Verwaltung wird ihr eine selbst auferlegte Enthaltsamkeit und Nichtnotwendigkeit aufgebürdet, indem sie es bei Aufgaben immer häufiger "vorzieht, es nicht zu tun".
Systemveränderung
Eine konsequente Personalreduktion in der öffentlichen Verwaltung kann zu einer politischen und wirtschaftlichen Systemänderung führen, welche zwar vorübergehend ein privatwirtschaftliches Wachstum zulässt, aber schlussendlich ausgerechnet die Privatwirtschaft zu beseitigen pflegt. Die Kürzung der Gehälter, Rechte und Befugnisse der Beamten hat zur Folge, dass Ideologien, die sich gegen die bestehende Ordnung auflehnen, plötzlich salonfähig werden und Verbreitung finden, wie am Ende der Weimarer Republik, beim Niedergang der Habsburg-Monarchie oder beim Zerfall der COMECON-Länder.
Der Widerstand der Beamten erfolgt individuell, in der Summe jedoch einheitlich, und verursacht eine Kehrtwende gegenüber dem politisch Erwünschten und Erlaubten. Diese individuelle Geschlossenheit ist nicht organisiert, sondern tritt als verbreitete Mentalität auf. Die sodann thematisierten Probleme sind geeignet, Machtveränderungen hervorzurufen, welche die eigenen strukturellen Probleme der öffentlichen Verwaltung lösen können.
Auch gegenwärtig sieht die Politik die öffentliche Verwaltung nicht als eine eigene gesellschaftliche Gruppe an, sondern als ein widerspenstiges Erfüllungsorgan, sozusagen als einen naturgegebenen Feind und Diener. Deshalb werden ihr höchstens Wahlzuckerln versprochen anstatt Perspektiven. Jeder vierte unselbstständig Beschäftigte ist in der öffentlichen Verwaltung tätig. Die Beamten stellen jene soziale Gruppe, welche am höchsten gebildet ist und die staatliche Macht bekleidet, weshalb sie auch eine starke Vorbildwirkung haben.
Trotzdem würdigt die Politik die Bürokratie gerne herab, weil sie sich nicht nur mittels der Verwaltung, sondern auch gegen die Interessen der Verwaltung Geltung verschaffen will. Auch bei der allgemein verbreiteten Geringschätzung der Beamten und beim Hochschaukeln der "bürgerlichen Empörung" über die Bürokratie wird nicht bemerkt, dass dies dem staatlichen politischen Willen entspricht. Mit dem Abbau der Verwaltung wird die letzte Gegenkraft beseitigt, welche die Machtbestrebungen der politischen Führung einschränken kann. Aus diesem Grund ist der Politik jede Art der Diffamierung der Beamten willkommen.
Das Personal der öffentlichen Verwaltung wird seinen Qualifikationen zum Trotz zusehends zu einem schlecht bezahlten, unsicher beschäftigten und verachteten Teil der Gesellschaft. Die Ausgliederung von Institutionen des Gesundheits-, Sozial- und Unterrichtswesens, von Ämtern und Behörden bis hin zu militärischen und polizeilichen Einheiten verursacht eine Absenkung des Niveaus der staatlichen Leistungen und viele Arten von Missbrauch.
Leichtfertige Politik
Die Privatisierung von Hoheitsaufgaben eröffnet die Möglichkeit, die politische Verantwortung abzustreifen. Nicht nur in Hollywoodfilmen wie "Rambo II - Der Auftrag" (1985) operiert die politische Führung so, dass eine Mis-sion im Regierungsauftrag, aber auf eigenes (ziviles) Risiko ausgeführt und im Fall des Scheiterns zur Privatangelegenheit erklärt wird. Ähnlich geht das auch bei der Privatisierung von Institutionen vor sich. Der Vorteil ist stets die Ablegung der politischen Verantwortung, nur dient hier nicht der Urwald als Kulisse, sondern der Paragrafendschungel.
Der geringfügige, jedoch stetige Ausbau der Verwaltung ist die unabdingbare Voraussetzung für politische Stabilität. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts zeigt uns, dass sich politische Systeme schlagartig festigten, wenn die Perspektiven der öffentlichen Verwaltung ungetrübt sind. Nicht nur die vorhandenen Unannehmlichkeiten der Bürokratie sollen daher wahrgenommen werden, sondern auch, dass Beamte eine eigenständige gesellschaftliche Gruppe bilden, welche sich beharrlich um ihr eigenes und damit auch um unser aller Fortbestehen sorgt.
Peter D. Forgács, geboren 1959 in Budapest, ist promovierter Hungarologe, Musikwissenschafter und Soziologe. Er lebt als Investor und Forscher in Wien. 2016 erschien sein Buch "Der ausgelieferte Beamte. Über das Wesen der staatlichen Verwaltung", in dem er das Thema dieses Aufsatzes vertieft (Böhlau Verlag, Wien/ Köln/ Weimar, 327 Seiten, 30,– Euro).