Wie zwei belgische Visionäre an dem Vorhaben, das gesamte Wissen der Welt zu sammeln, scheiterten - damit aber bis heute Spuren hinterlassen haben.
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Wir leben in einer Wissensgesellschaft. Mit diesem Satz wird die heutige Zeit oft beschrieben, doch diese Diagnose trifft nicht nur auf unsere Epoche zu. Die Menschheit erlebte immer wieder Phasen, in denen ihr Wissen mit einer beeindruckenden Geschwindigkeit wuchs. Blicken wir etwa auf das Ende des 19. Jahrhunderts: Bis dahin unbekannte Weltteile wurden erforscht, dazu kamen Entdeckungen in den Naturwissenschaften und zahllose Erfindungen, welche die technische Entwicklung vorantrieben.<p>Doch wie konnte man einen Überblick über dieses Wissen behalten? Wie könnte es erfasst und Forschern auf der ganzen Welt zugänglich gemacht werden, noch dazu in einer Zeit, in der die Kommunikation schwieriger und langsamer war als heute? Zwei Belgier versuchten, Antworten auf diese Fragen zu finden. Sie scheiterten zwar dabei, legten aber die Grundlagen für unser heutiges Wissensmanagement.<p>
Justiz-Archivierung
<p>Der 1868 in Brüssel geborene Paul Otlet war schon als Kind von Büchern fasziniert, studierte Rechtswissenschaft und begann in einer Anwaltskanzlei zu arbeiten. Viel mehr als die juristische Arbeit beschäftigte ihn aber ein Projekt seines Chefs, der die gesamte belgische Rechtsprechung zusammentragen, archivieren und öffentlich zugänglich machen wollte. Otlet merkte aber bald, dass mit den damals üblichen Methoden der Archivierung solch ein großes Vorhaben nur schwer umgesetzt werden konnte. Sein Interesse an der Frage, wie Wissen dokumentiert werden kann, war damit geweckt.<p>In dieser Anwaltskanzlei lernte Otlet auch den um vierzehn Jahre älteren Juristen Henri La Fontaine kennen. Dieser engagierte sich in der damals noch jungen Friedensbewegung und war einer der führenden Pazifisten Belgiens. In Antwerpen organisierte er einen internationalen Friedenskongress, setzte sich für Abrüstung und die Schaffung von internationalen Gerichten ein und wurde für seine Bemühungen schließlich belohnt, als ihm im Jahr 1913 der Friedensnobelpreis verliehen wurde.<p>1895 gründeten Otlet und La Fontaine in Brüssel das Office International de Bibliographie und traten mit einem großen Vorhaben an: Sämtliche auf der Welt veröffentlichten Werke - also sowohl Neuerscheinung als auch ältere Publikationen - sollten erfasst werden. Otlet und La Fontaine wollten damit einen Überblick über den weltweiten Stand der Forschung ermöglichen und die internationale Kooperation in der Wissenschaft verbessern. Ihre Überlegung war: Wenn die Forscher als Avantgarde der jeweiligen Nationen über die Grenzen hinweg zusammenarbeiten und ihr Wissen in den Dienst der guten Sache stellen würden, so könnten Kriege in Zukunft verhindert werden.<p>Mit Unterstützung der belgischen Regierung wurde ein Kongress in Brüssel einberufen, um die neu gegründete Institution vorzustellen. Die Konferenz brachte die erwünschten Ergebnisse, die internationale Zusammenarbeit wurde vereinbart und die belgische Regierung stellte für das Office Räumlichkeiten zur Verfügung. In den folgenden Jahre wurde die neu erscheinende Literatur so weit wie möglich erfasst, auf standardisierten Karteikarten vermerkt und in ebenfalls standarisierten Karteikästen gesammelt.<p>"Kino, Phono, Radio, Tele: Diese Instrumente, die als Ersatz für das Buch gesehen werden, sind das neue Buch geworden." Dies schrieb Otlet in seinem Hauptwerk "Traite de la documenta-
tion", und gemeinsam mit La Fontaine vertrat er die damals noch ungewöhnliche Meinung, dass Wissen nicht nur in Büchern, sondern auch in Zeitungen, Zeitschriften, Landkarten, Bildern und vielem mehr gesammelt sei.<p>
16 Mio. Karteikarten
<p>Dementsprechend begannen die beiden, auch andere Medien als Bücher zu registrieren. Das Ergebnis war eine überbordende Sammlung, die nur mit Mühe geordnet werden konnte. Das Archiv des Office internationale wuchs mit beeindruckender Geschwindigkeit und umfasste schließlich 16 Millionen Karteikarten. Um all diese Informationen überblicken zu können, entwickelten Otlet und La Fontaine die damals üblichen Systeme der Katalogisierung zur Universellen Dezimalklassifikation weiter. Dabei werden die Bestände durch eine Ziffernfolge in Dreierkombinationen beschrieben, diese können wiederum kombiniert werden, was die Beschreibung von komplexen Sachverhalten in Ziffern möglich macht.<p>Der Erste Weltkrieg war eine Zäsur für die Arbeit von Otlet und La Fontaine. Die beiden flohen ins Ausland, um der deutschen Besatzung Belgiens zu entkommen, und die Arbeit an der Sammlung wurde für Jahre unterbrochen. Nach dem Ende des Krieges kehrten sie nach Brüssel zurück. Trotz der jahrelangen Unterbrechung hatten sie mittlerweile so viel Material gesammelt, dass die Sammlung in Brüssel vergrößert werden musste und an einem neuen Standort in Stadt angesiedelt wurde. Um den Anspruch, das Wissen der gesamten Welt abzudecken, schon in seinem Namen erkennen zu lassen, nannte Otlet dieses Gebäude Palais Mondial oder Mundaneum.<p>Seiner Meinung nach sollte die einzigartige Stellung des Munda-neums auch baulich in Form einer Cité Mondial sichtbar werden. Otlet überzeugte den bekannten Architekten Le Corbusier von seinem Vorhaben - und dieser entwarf den Plan einer Weltstadt. In ihr sollten neben dem weltweiten Archiv auch internationale Organisationen, politische Institutionen und eine Universität angesiedelt werden. Als besten Standort dafür sah Le Corbusier das Ufer das Genfer Sees, die Schweizer Behörden waren von den Entwürfen des Architekten allerdings wenig angetan, daher wurde dieses Vorhaben nie umgesetzt.<p>Zu dieser Zeit entwickelte sich auch eine Zusammenarbeit des Mundaneums mit einer damals noch jungen Institution in Wien, nämlich dem von Otto Neurath 1925 gegründeten Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum. Otlet und Neurath lernten sich bei einem Kongress in Genf kennen und erkannten trotz sprachlicher Schwierigkeiten - Neurath sprach kaum Französisch, Otlet nur sehr wenig Deutsch - ihre gemeinsamen Interessen: Beide wollten Wege finden, mit denen Wissen der breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden konnte, und beide wollten damit auch das internationale Verständnis fördern.<p>
Hoffnung Völkerbund
<p>Neurath entwickelte dazu Isotype, also jene heute geläufigen Piktogramme, mit denen Informationen in eine Bildsprache übersetzt und damit leichter fassbar werden. Die Zusammenarbeit zwischen Wien und Brüssel wurde aber schon 1929 - und noch bevor sie wirklich in Fahrt kam - beendet; wegen der Weltwirtschaftskrise war die Finanzierung dieses Vorhabens nicht mehr möglich.<p>Dies war aber nur der erste Rückschlag, weitere sollten in den kommenden Jahren folgen. In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg hatten Otlet und La Fontaine große Hoffnungen in den damals neu gegründeten Völkerbund gesetzt. Er entsprach ihren Vorstellungen von einer internationalen Organisa-
tion, die den Weltfrieden wahren soll. Umso größer war die Enttäuschung, als der Völkerbund kein Interesse an der Zusammenarbeit mit den beiden zeigte. Otlet und La Fontaine waren zu diesem Zeitpunkt auch nicht mehr die Jüngsten. Die nachfolgende Generation trat immer selbstbewusster auf, forderte eine Anpassung des Office international an die neuen Zeiten - und so wurden dessen Gründer bald entmachtet. Die hochrangigen Ämter in der Organisation, die für die beiden geschaffen wurden, waren ohne wirkliche Einflussmöglichkeiten. Zudem verlor auch die belgische Regierung das Interesse. Zuerst wurden die Förderungen für die beiden gekürzt, 1934 folgte das endgültige Aus: Die belgischen Behörden schlossen das Munda-neum und weder Otlet noch seine Mitarbeiter durften es betreten.<p>Sieben Jahre lang blieb die Sammlung unzugänglich, im Zweiten Weltkrieg ließ die deutsche Besatzung das Gebäude räumen, um es für Ausstellungen nutzen zu können. Die Bestände wurden aufgelöst und bei vielen der gesammelten Objekte verlieren sich die Spuren bis heute. Die verbliebenen Reste der Sammlungen wurden an unterschiedlichen Orten in Brüssel untergebracht und 1993 schließlich in die Stadt Mons, etwa 60 Kilometer südwestlich von Brüssel, gebracht. Das heutige Archiv steht zwar in der Tradition des Munda-neums und trägt auch noch diesen Namen, die umfangreiche Sammlung, die Otlet und La Fontaine unter Mühen zusammengetragen haben, existiert aber nicht mehr.<p>
Frühe Netz-Phantasien
<p>La Fontaine starb 1943, Otlet im Jahr darauf. Was bleibt von den beiden? Otlet gilt vielen Forschern heute als einer der Gründerväter des Internet. Schon 1934 schrieb er von Geräten, die in Büros und Wohnzimmern stehen, über Leitungen mit einer Schaltstelle verbunden sind und auf denen man Bücher lesen, Tonaufzeichnungen hören und Filme sehen kann. In seiner Vorstellung sollte ein "ré-
seau de communication, de coopération et d’échanges", also ein Netz der Kommunikation, der Zusammenarbeit und des Austausches entstehen, mit dem das Wissen der Menschheit grundlegend neu strukturiert werden sollte. In der Vorstellung Otlets sollte schließlich ein "mechanisches und kollektives Gehirn" entstehen.<p>Allerdings gibt es einen gravierenden Unterschied zwischen dem Netz, das Otlet plante, und dem heute tatsächlich existierenden Internet: Otlet sah nämlich eine Art Qualitätskontrolle vor, bei der eine zentrale Stelle die Inhalte prüft, ehe sie in das System eingespeist und damit öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies widerspricht dem heutigen Verständnis, wonach jeder Nutzer zum Wissensaufbau im Internet - wie etwa zur Enzyklopädie Wikipedia - beitragen kann.<p>Obwohl Otlet viele seiner Pläne nicht umsetzen konnte, hat er mit seinem Konzept, nicht nur Bücher, sondern Daten als solche zu sammeln und sie technisch zugänglich zu machen, die Grundsteine für Datenbanken und das moderne Wissensmanagement gelegt. Sein Buch "Traité de documentation" gilt bis heute als grundlegendes Werk auf diesem Gebiet. Der europäische Pionier Otlet hat damit die Grundlagen geschaffen, auf denen Jahrzehnte später das Internet aufgebaut werden konnte.
Christian Hütterer, geb. 1974, Politikwissenschafter und Historiker, lebt und arbeitet in Brüssel.