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Die US-Demokratie funktioniert noch

Von Daniel Haufler

Gastkommentare

Der Tag des Grauens mit dem Sturm auf das Kapitol in Washington hat eine Vorgeschichte - und zeugt von einem Zerfallsprozess amerikanischer Institutionen. Das System wird aber die aktuellen Turbulenzen überleben.


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Es ist eine Katastrophe für die USA, ein unglaublich erschütterndes und auch peinliches Spektakel: Anhänger von Donald Trump - fast nur Männer - stürmen angeheizt vom noch amtierenden US-Präsidenten das Kapitol. Abgeordnete des Repräsentantenhauses flüchten in Schutzräume, Senatoren werden von Polizisten in Sicherheit gebracht. Die Randalierer stürmen in Büros und den Senatssaal, lassen sich auf dem Stuhl des Vorsitzenden ablichten. Im Senat verrammeln Sicherheitskräfte eine Tür mit einem Pult und müssen sich mit Waffengewalt gegen die illegalen Eindringlinge wehren. Eine Frau wird erschossen, drei weitere Randalierer sterben in der Nähe des Kapitols. Ein Polizist kommt ums Leben. Das Parlament des mächtigsten Staates auf dieser Erde wird für Stunden von einem Mob gekapert, während der Präsident das Geschehen einige hundert Meter entfernt im Fernsehen verfolgt, bis er in einem Video sagt, dass die Leute, die er lieb habe, die ganz besondere Menschen seien, nun doch einmal nach Hause gehen sollten.

Es ist ein Tag des Grauens für das Land, das so lange demokratisch regiert wird wie kein anderes, für ein Land, das sich deshalb für besonders vorbildlich hält und gern weltweit für Freiheit und Demokratie wirbt. Es ist auch ein Tag, an dem der Präsident, der schon vier Jahre lang keinen Respekt für das demokratische System gezeigt hat, letztlich zu dessen Sturz aufruft. Dieser dunkle Moment der US-Geschichte ist nur konsequent, wenn man sich Trump und sein Verhältnis zu den rechtsextremen Bewegungen in den vergangenen Jahren anschaut. Es lässt sich eine gerade Linie ziehen vom Lob des Präsidenten für rechte Rassisten in Charlottesville 2017 bis zu seinem Appell an die neofaschistischen Proud Boys, sich für Aktionen bereitzuhalten. Der Sturm auf das Kapitol hat eine Vorgeschichte - und zeugt von einem Zerfallsprozess amerikanischer Institutionen.

Wie kommt es, dass die Polizei und andere Sicherheitskräfte so schlecht vorbereitet waren auf den Trump’schen Mob? Seit Tagen waren Aktionen angekündigt, war die Stimmung aufgeheizt. Doch die Randalierer konnten fast unbehelligt Barrikaden überwinden, die paar Sicherheitsleute zur Seite drängen und zu Hunderten in die heiligen Hallen des Kapitols vordringen. Wie anders war die Polizei da auf Demonstrationen von "Black Lives Matter" vorbereitet, wie rabiat sprühte sie mit Tränengas den Weg frei, als der Präsident auf einem Platz gegenüber dem Weißen Haus eine Bibel in die Kameras halten wollte. Wie schnell sterben schwarze Männer in den USA, wenn sie bei einer Polizeikontrolle eine falsche Bewegung machen. Die weißen Rassisten im Kapitol dagegen konnten sich stundenlang austoben und ihre Konföderierten-Flaggen in Washington wehen lassen.

Die Republikaner treiben die Spaltung der Gesellschaft voran

Ist die Demokratie in den USA also bedroht? Ja, das ist sie. Allerdings nicht wegen des Sturms von einem Haufen idiotischer Trump-Anhänger, sondern weil die Republikaner diesen Präsidenten und damit auch diesen Sturm erst ermöglicht haben. Sie treiben seit Jahren, ja seit Jahrzehnten die Spaltung der Gesellschaft voran. Sie begünstigen die Wohlhabenden mit Steuerreformen und erklären ihrer Klientel, daran seien die Wall-Street-hörigen Demokraten schuld. Sie streichen Sozialleistungen, weil sie an Leute gingen, die sie nicht verdient hätten - ein Code für Schwarze und andere Minderheiten. Sie blockieren sinnvolle staatliche Investitionen in Bildung, Infrastruktur oder das Gesundheitswesen, weil das den Staatshaushalt zu sehr belaste, während sie immer Milliarden fürs Militär verschwenden. Die Republikaner folgen seit Ronald Reagan dem Motto: Der Staat ist nicht die Lösung, er ist das Problem.

Das Ergebnis ist vor allem bei den gering Gebildeten eine weit verbreitete Feindschaft gegenüber staatlichen Institutionen. Besonders verhasst ist der Kongress, sind die Abgeordneten des Repräsentantenhauses und die Senatoren. Diese Feindschaft macht sich Donald Trump schon lange zunutze. Sie ist sein Lebenselixier und das seiner Anhänger. Sie hat den Weg bereitet für den Sturm des Kapitols. Der Hass auf den Staat und seine Institutionen wird auch nach seinem Auszug aus dem Weißen Haus bei seinen Anhängern weiterleben, zumal ihn einige Top-Republikaner wie Ted Cruz oder Josh Hawley weiter befeuern. Die Republikaner stürzt das in ein wohlverdientes Desaster. Denn einerseits müssen sie sich als Oppositionspartei neu einrichten - irgendwie mit und ohne Trump -, andererseits sich öffnen für neue Wählergruppen.

Wie nötig das ist, hat nämlich ein Ereignis gezeigt, das im Chaos von Washington fast untergegangen ist: die Stichwahl in Georgia. Dort haben die beiden demokratischen Herausforderer Raphael Warnock und Jon Ossoff die republikanischen Senatoren David Perdue und Kelly Loeffler geschlagen. Sie haben, wenn auch knapp, in einem Bundesstaat gesiegt, der seit mehr als 15 Jahre vollständig von den Republikanern kontrolliert wird und es daher vor allem schwarzen Wählern mit immer neuen bürokratischen Schikanen erschwert hat, an Wahlen teilzunehmen.

Die Demokraten haben in Georgia dazugelernt

Weshalb konnte der Sieg nun gelingen? Weil die Demokraten seit bald einem Jahrzehnt so intensiv wie nirgends sonst an der Basis um Zustimmung für ihre Politik warben - und, wichtiger noch, weil sie es geschafft haben, trotz aller diskriminierenden Hürden so viele Schwarze zum Wählen zu bewegen wie nie zuvor. Diesen Erfolg verdankt die Partei zu einem Gutteil Stacey Abrams, die im Jahr 2018 fast zur Gouverneurin des Staates gewählt worden wäre. Sie verlor damals noch, weil die Republikaner tausende Schwarze am Wählen hinderten. Daraus haben sie und ihre Partei gelernt.

Georgia ist ein Beispiel dafür, dass die Demokratie in den USA durchaus noch funktioniert. Auch die Präsidentschaftswahlen zeigten das. Die Demokraten werden in den nächsten beiden Jahren die Macht im Kongress und im Weißen Haus haben. Insofern muss man konstatieren: Das System wird die aktuellen Turbulenzen überleben. Doch das wird seine Zeit dauern. Trump wird nicht über Nacht verschwinden und nur noch golfen. Seine Partei wird es nicht wagen, sich jetzt vollständig von ihm zu distanzieren oder jetzt gar einer Amtsenthebung zustimmen. Zu groß ist seine Anhängerschaft. Bei den Wahlen im November hat er so viele Stimmen gewonnen wie kein Republikaner vor ihm - und das trotz seiner desaströsen Amtsführung. Seine radikalisierten Anhänger stellen zudem eine Bedrohung dar.

Die Republikaner wissen allerdings auch, dass sie nach und nach selbst eher konservative Bundesstaaten wie eben Georgia - und damit ihre letzten Machtbastionen - verlieren, wenn sie nicht auf den Wandel in weiten Teilen der Gesellschaft zu mehr Offenheit und die sich verändernde Demografie reagieren. In wenigen Jahren werden die Weißen nicht mehr die Mehrheit der Bevölkerung stellen. Den Republikanern steht nun die schwierigste Zeit seit Watergate bevor.

Die Demokraten sind auf einem guten Weg mit einem moderaten Präsidenten und einem ambitionierten Reformprogramm, das in der Bevölkerung weithin begrüßt werden sollte. Dennoch dürfte es auch für sie nicht einfach werden. Sie müssen eine Reformagenda mit knappen Mehrheiten durchsetzen, um ihre Wählerinnen und Wähler nicht zu enttäuschen und bei den nächsten Kongresswahlen 2022 ihre Macht wieder zu verlieren. Der künftige US-Präsident Joe Biden hat also nicht viel Zeit für seine Projekte. Und er weiß aus seiner Zeit als Vize von Barack Obama, dass er nicht auf überparteiliche Unterstützung hoffen kann. Es wird eine spannende und nervenaufreibende Zeit werden, für die USA und den Rest der Welt.