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Spätestens seit dem EU-Beitritt wartet die Republik auf eine neue Erzählung. Ein Essay zum Nationalfeiertag.
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Wird in hundert Jahren noch irgendjemand österreichische Gedichte lesen?
Diese Frage stellt Ivan Krastev in seinem Essay "Europadämmerung" mit Bezug auf sein Heimatland Bulgarien, aber natürlich kann man die Frage auf jedes kleinere Land umlegen, das von den Kräften einer umfassenden Globalisierung durcheinandergewirbelt wird. Wird also noch irgendjemand in hundert Jahren Gedichte lesen, die in diesem ganz besonderen Deutsch geschrieben sind, das eben kein deutsches, sondern ein österreichisches Deutsch ist? Und falls doch, wird es dann noch überhaupt genug Leser geben, die über das sprachliche Feingefühl verfügen, das Besondere dieser Gedichte zu erkennen?
Sicher, Sprachen und Staaten sind ständigen Veränderungen unterworfen. Sie tauchen auf, wachsen und blühen; und - rein statistisch jedenfalls - verschwinden die allermeisten auch wieder. Mit einem solchen, nihilistisch angehauchten Relativismus wird allerdings kein Bundespräsident am Nationalfeiertag vor seine Mitbürger treten. Diejenigen, die solche Feiertage hochhalten, erwarten bei solchen Anlässen nämlich genau das Gegenteil: Sie wollen sich darüber versichern, was Österreich als Staat, als Gemeinschaft zusammenhält.
Tatsächlich ist es ja auch für die Republik höchst relevant, ob sich auch noch in Zukunft die Menschen dieses Staats als Österreicher, als Österreicherin, fühlen und diesem Gemeinwesen loyal verbunden ist. Oder ob etwas Neues, ja vielleicht sogar etwas Älteres an diese Stelle tritt, ein Europabewusstsein oder ein noch stärkeres Regionalbewusstsein, das auf Kosten der Zwischenebene mit Namen Österreich geht.
An dieser Herausforderung ist der Staat Österreich über Jahrhunderte hinweg gescheitert. Stets verlief ein tiefer Spalt durch die Gesellschaft: zwischen Katholiken und Protestanten, Deutschen und Slawen, Großdeutschen und Österreichern und schließlich Roten und Schwarzen.
Das begann sich erst nach 1945 zu ändern, und eines der ersten großen symbolischen Projekte des wiederauferstandenen Staats war der Wiederaufbau des durch einen Brand zerstörten Stephansdoms. Jedes Bundesland lieferte dazu einen Beitrag. Der neue Steinboden kam aus Niederösterreich, Tirol spendete die Fenster, Salzburg den Tabernakel, die Steiermark das Tor, Kärnten die Kronleuchter, Vorarlberg die Sitzbänke und so weiter. Im Wahrzeichen des Stephansdoms spiegelte sich das neue "Wir" der Republik. Heute fehlt es an Symbolen vergleichbarer Strahlkraft. Die Politik jedenfalls hat keine geschaffen. Natürlich bleiben die Klischees von der schönen Landschaft, den hohen Bergen, der blauen Donau, der Musik und Literatur; es bleiben eine Handvoll neuzeitlicher Heroen aus dem Sport- und Unterhaltungsbereich, die untrennbar mit den dahinterstehenden Gewinnmaximierungsmechanismen verbunden sind. Aber auch hier sind die Zeiten vorbei, als gefühlt eine ganze Nation einem tollkühnen Kärntner im knallgelben Rennanzug zugeschaut hat, wie er vor 41 Jahren den Patscherkofel hinunter zu Olympia-Gold raste. Und solche Momente werden so schnell auch nicht wieder zurückkehren. Die Zeiten sind einfach nicht danach.
Hinzu kommt, dass die Zweite Republik selbst seit langem im Visier ihrer Kritiker steht. Von Linken wie Rechten. Seit den 1980er Jahren reiben sich die kritischen Geister, die Dichter und Denker, an den herrschenden Zuständen. An der Verluderung der politischen Sitten, die damals noch von SPÖ und ÖVP ausging, an deren mangelnder Bereitschaft zu einer selbstkritischen Aufarbeitung der Geschichte, am schlampigen Verhältnis zum Nationalsozialismus, und auch die Sozialpartnerschaft hatte damals schon nicht nur Freunde.
Dann kam der Aufstieg der FPÖ und damit eine neue Form der Generalkritik am rot-schwarzen Proporzstaat und dessen "Classe privilégiée", an der wachsenden Zahl der Fremden und der Fremdbestimmung.
In den Augen dieser Kritiker hat das Bestehende keinen Anspruch auf Gnade. Irgendwie sind fast alle überzeugt, dass da längst etwas zu Ende hätte gehen sollen, das sich aber beharrlich weigert, den letzten Weg anzutreten. Der Ist-Zustand hat nur dann eine Chance auf Verteidigung, wenn sich die Vision der Gegenseite durchzusetzen droht. Aber nicht aus eigener Rechtfertigung. Da können die Bundespräsidenten der letzten dreißig Jahre in ihren feierlich-mahnenden Reden noch so sehr mahnen und appellieren und bitten. Und die Idee, dass ein Gebäude, geschweige denn ein christlicher Dom, zum Brennpunkt eines nationalen Gemeinschaftsgefühls werden könnte, ist für die meisten der heutigen Wortführer ein Ding des Unmöglichen.
Politik ist auf Symbole angewiesen, nur mit ihrer Hilfe vermag sie, im Guten wie im Schlechten, ihre volle Kraft zu entfalten. Diese Symbole verdichten sich zu Erzählungen. Und diese wiederum sind in der Lage, den Menschen Auskunft darüber zu geben, wer sie sind und wie sie zusammenleben. Weil weder die Monarchie noch die Erste Republik eine verbindende Erzählung für ihre Bürger entwickeln konnten, gingen beide unter.
Nach 1945 gelang es SPÖ und ÖVP, die Republik und ihre Zusammenarbeit mit einem Überbau zu versehen. Das vorangegangene Scheitern spielte dabei eine wichtige Rolle. Dann begann eine Zeit, in der politische Symbolik einen unangenehmen Beigeschmack erhielt. Die großen Erzählungen wurden mit Lust und Leidenschaft zerlegt und keiner scherte sich darum, aus den Resten etwas Neues zu formen. Alles Legenden, Halbwahrheiten und unangemessene Verklärung, dekretierten die kritischen Geister.
Nicht selten sogar zu Recht. Der Staatsvertrag von 1955 verdankte sich ja tatsächlich nicht der Trinkfestigkeit der österreichischen Delegation in Moskau. Schluss mit allen Mythen, forderte der Zeitgeist einer neuen, sehr zeitgeistigen Generation. Eine wirklich aufgeklärte Gesellschaft sei nämlich auf derlei Firlefanz nicht angewiesen.
Dieser Glaube stellt sich zunehmend als Irrtum heraus. Jede Gemeinschaft sehnt sich nach einer Idee ihrer Identität. Das gilt für Staaten wie für Staatenbünde, wie die Europäische Union, die zu etwas Neuem zusammenwachsen wollen. Heute steht die Republik ohne verbindende Erzählung da; die alten sind dekonstruiert, wie es so schön heißt. Seit dem EU-Beitritt 1995 wartet dieses Land auf ein neues Narrativ, das Land und Leute zu verbinden vermag. Und wartet und wartet. Wie übrigens auch die Union.