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Die verändernde Kraft der Kultur

Von Johannes Wetzel

Politik

Die konfliktreiche Hafenstadt präsentiert sich von einer ungewohnten Seite.


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Vielleicht hat niemand Marseille besser beschrieben als Anna Seghers. In ihrem Roman "Transit" sitzt der Erzähler, vor den Nationalsozialisten bis hierher an die Südküste Frankreichs geflohen, in einem Café an der Ecke von Canebière und Altem Hafen. Zum endlosen Warten auf Ausreise verurteilt, hört er die Stimmen von Marseille: "Es war uraltes Hafengeschwätz, so alt wie der Alte Hafen selbst und noch älter. Wunderbarer, uralter Hafentratsch, der nie verstummt ist, solange es ein Mittelländisches Meer gegeben hat, phönizischer Klatsch und kretischer, griechischer Tratsch und römischer, niemals waren die Tratscher alle geworden, die bange waren um ihre Schiffsplätze und um ihre Gelder, auf der Flucht vor allen wirklichen und eingebildeten Schrecken der Erde. Mütter, die ihre Kinder, Kinder, die ihre Mütter verloren hatten. Reste aufgeriebener Armeen, geflohene Sklaven, aus allen Ländern verjagte Menschenhaufen, die schließlich am Meer ankamen, wo sie sich auf die Schiffe warfen, um neue Länder zu entdecken, aus denen sie wieder verjagt wurden."

Durch keines der Tore Europas dürften sich mehr Menschen hindurchgezwängt haben als durch das 2600 Jahre alte Marseille. Marseille ist das Produkt europäischer Schicksale und daher nicht erst eine europäische Kulturhauptstadt, seit ihr für dieses Jahr das europäische Label verliehen wurde. Bernard Latarjet, Initiator der Kandidatur, die 2008 zum Erfolg führte, erklärte damals: "Die wirklichen kulturellen Fragen an Europa sind Migration, Rassismus, Beziehung zwischen Mann und Frau, Religion, Ökologie." Zu all dem hat Marseille schon lange etwas zu sagen. Mit 860.000 Einwohnern ist Marseille die zweitgrößte Stadt Frankreichs. Armenier, Komorer und die Algerienfranzosen bilden große Gemeinschaften. Dazu kommen die Arbeitsmigranten aus dem Maghreb - nirgends in Europa war das Echo des Arabischen Frühlings lauter zu hören als in den Gassen abseits der Canebière oder in den Wohnsilos der "Quartiers Nord".

Ein neuer Wind weht über das Mittelmeer: Das Goethe-Institut hat die Wiedereröffnung seines Hauses in Marseille angekündigt. Der British Council ging bereits voran. Leila Shahid, Vertreterin der Palästinensischen Autonomiebehörde bei der EU, sagt: "Was hier passiert, wirkt gewaltig am anderen Ufer des Mittelmeers."

Die ersten Ausstellungen, mit denen das Festjahr am vergangenen Wochenende eröffnet wurde, befassen sich mit diesen Fragen.

Moderner Odysseus

Am Hafen, wo sich die Passagiere nach Algier einschiffen, wird unter dem Titel "Méditerranées" zwischen schwarzen Containerwänden die Zeitreise eines modernen Odysseus gezeigt, der von Troja über Alexandria, Rom, Istanbul und Tunis bis Marseille fährt. Videos lassen die Bewohner dieser Städte, den arbeitslosen Athener oder die Kopftuchträgerin aus Istanbul, mit ihren aktuellen Nöten zu Wort kommen. Fast zweihundert Exponate wie die Büste des Seifenfabrikanten Jules Charles-Roux, der mit der berühmten "Savon de Marseille" reich wurde und als Organisator der ersten französischen Kolonialausstellung 1906 in Marseille die Glanzzeit der Stadt repräsentiert, erzählen zweieinhalb Jahrtausende Mittelmeer.

Gleichzeitig zeigt die Ausstellung "Ici, Ailleurs" ("Hier, Anderswo") in einer ehemaligen Zigarettenfabrik teils für oder sogar in Marseille produzierte Arbeiten von 39 zeitgenössischen, aus den Mittelmeer-Anrainerstaaten stammenden Künstlern - darunter Stars wie Ange Leccia oder Kader Attia. Nicht alles ist gelungen. Aber Kultur ist nicht nur das künstlerische Ergebnis. Genauso zählt der Wandel der Stadt, den der schöpferische Prozess anstößt. Das Kulturjahr hat Marseille bereits verändert. Die Erweiterung dreier Museen - des stadtgeschichtlichen, des kunsthistorischen und des Mode-Museums - soll im Sommer abgeschlossen sein. Ein Getreidesilo wurde als Konzertsaal eingeweiht.

Den Alten Hafen übergab der Stararchitekt Norman Foster weitgehend den Fußgängern. Daneben baute Rudy Ricciotti das MuCEM: Das staatliche "Museum der Zivilisationen Europas und des Mittelmeers", das die Sammlungen des einstigen Pariser Volkskundemuseums aufnehmen und im Juni eröffnet werden soll. Hier entstand auch die "Villa Méditerranée" als kulturelle Vitrine der Regionalverwaltung.

Die im 19. Jahrhundert am Hang über dem Hafen errichtete "Cathédrale de la Major", mit ihrer neuromanisch-byzantinischen Architektur ein Symbol der kolonialen Ansprüche Frankreichs im Mittelmeer, wird durch große Freitreppen an die Quais angebunden. Die sie stützenden gewaltigen Arkaden sollen Boutiquen beherbergen und den üblen Ruf des "Quai des Belges" verbessern.

Überhaupt hofft man, die Anstrengungen der "Kulturhauptstadt" könnten das zuletzt stark getrübte Image Marseilles aufpolieren. Die Arbeitslosigkeit liegt mit 17 Prozent weit über dem Landesdurchschnitt. Die Kriminalität gehörte zwar schon immer zum Image der Stadt. Aber 24 Morde in Konflikten zwischen Drogenbanden brachten der Stadt 2012 einen Rekord an Negativ-Schlagzeilen.

Modelle Bilbao und Lille

Erstaunlich spät hat Marseille das Modell Bilbao zur Kenntnis genommen und die Kraft der Kultur erkannt. Erst das Erfolgbeispiel von Lille, Kulturhauptstadt 2004, war der Auslöser eines Sinneswandels. Für die Vernachlässigung der Kultur gibt es viele Gründe: das Desinteresse der patriarchalischen, endlos regierenden Bürgermeister wie des seit 1995 amtierenden Jean-Claude Gaudin; die Verarmung einer Stadt, die nach der algerischen Unabhängigkeit 1962 mit dem Niedergang des Hafens und dem Zustrom von Flüchtlingen zu kämpfen hatte; die lähmenden Kämpfe innerhalb der Parteien, zwischen den politischen Lagern und Verwaltungsebenen. Bezeichnenderweise ist es der Präsident der Industrie- und Handelskammer, der den Vorsitz des für die Organisation des Kulturjahrs zuständigen Trägervereins innehat.

Marseille hat die europäische Unterstützung nicht trotz, sondern wegen seines Rückstands bekommen. Aber allein hätte die Stadt das Ereignis nicht zustande gebracht. Daher gehören zur "Kulturhauptstadt" auch über siebzig unter dem Namen "Marseille-Provence" vereinte Gemeinden des Departements rund um Marseille.

Allein die Finanzierung von 500 Veranstaltungen kostet über 90 Millionen Euro. Dazu kommen Investitionen von 680 Millionen Euro aus den Schatullen von Staat, Region und Stadt für Neubauten und Renovierungen. Dass die Politiker all dieser Städtchen, deren politische Couleur von ganz links bis rechtsextrem reicht, überhaupt zusammenfanden, ist ein Schritt zur dringend nötigen wirtschaftlichen und verkehrstechnischen Vernetzung der Region.

Die Kultur macht es möglich: Gleichzeitig mit dem Start im rechts regierten Marseille wurden Ausstellungen im noch weiter rechts geführten, mit Marseille herzlich verfeindeten Aix-en-Provence oder in Marseilles kommunistischem Vorort Aubagne eingeweiht. 400.000 Menschen strömten zum Eröffnungswochenende nach Marseille. In Arles, fast 100 Kilometer entfernt, ging es mit einem Riesenfeuerwerk zu Ende.