Die moralisierende Sicht gebiert den absoluten Feind.
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Angesichts der Gefahr eines Atomkrieges gilt es ins Bewusstsein zu heben, dass ein Krieg von Deutungen nicht nur begleitet, sondern stets getragen ist. Nicht umsonst heißt es, dass in Kriegszeiten das Wort schon die halbe Tat sei. Diese Deutungen machen Gründe geltend, die auf unterschiedlicher Ebene liegen. Dazu drei Deutungsebenen:
Wirtschaftliche Dynamiken können Kriege evozieren. Da geht es um die Sicherstellung der Versorgung mit knappen Gütern, die durch ungehemmte Verfeinerung und Vervielfältigung artifizieller Bedürfnisse immer schwieriger wird. Die Ukraine ist reich an Nahrungsmitteln und Rohstoffen und liegt am Schwarzen Meer als Tor zur Welt. Sie liegt damit auf dem Schnittpunkt vieler Interessen. Es gibt aber tiefere Gründe, für die man wirtschaftliche Kalküle hintanstellt.
Tiefer liegen geostrategische Gründe. Da geht es um die Mittel und Wege der Selbsterhaltung der Souveränität eines politischen Gemeinwesens. Hier kommt es auch zum Kräftemessen zwischen politischen Ordnungen. Das bilaterale Kräftemessen zwischen Russland und der Ukraine ist zugleich Austragungsort eines multilateralen Kräftemessens zwischen der Nato und Russland. Aus westlicher Sicht geht es um die Verteidigung der demokratischen Ordnung gegen einen imperialistischen Despotismus. Aus russischer Sicht geht es um eine Verteidigung der multipolaren Weltordnung gegen eine fortschreitende globale Hegemonie des Westens unter der Führung der USA. Die russischen Eliten meinen, dass man sich seine Anerkennung als Supermacht erkämpfen müsse.
Politische Ordnungen wiederum speisen sich aus Grundorientierungen im Freiheitsbegriff. Dies ist die zivilisatorisch-kulturelle Dimension. Aus westlicher Sicht steht die moderne Freiheitsinterpretation, die ein Recht der Subjektivität kennt, gegen eine voraufklärerische Geistigkeit, die eine Unterordnung des Einzelnen unter das Kollektiv lebt (Russland gehört geografisch zum überwiegenden Teil zu Asien). Aus russischer Sicht praktiziert der Westen eine einseitige Überbetonung des Rechts der Subjektivität, was zu einer Willkürherrschaft führt, die alle verbindlichen Ordnungen und Normativitäten auflöst. Das ist die "Verwestlichung", vor der Russland warnt.
Die moralische Perspektive: ein Kampf Gut gegen Böse
Deutungsperspektiven zu bedenken bedeutet nicht, klare Differenzen in der Sache zu nivellieren. Erstens unterscheidet sich die strategische Kultur von Despotien und Republiken. Die Bereitschaft, die eigenen Bürger in den Tod zu schicken, ist in Republiken gehemmter. Die überwiegende Mehrzahl der Nato-Mitgliedstaaten sind Demokratien. Zweitens kann man zwar sehen, dass im Westen eine einseitige Auffassung des Rechts der subjektiven Freiheit zu Problemen im Verständnis von Recht und Staat führt. Unbeschadet dessen ist die Grundorientierung, die demokratische Republiken ermöglicht, ein konkreteres Freiheitsbewusstsein als jenes, das sich in einem despotischen Kollektivismus realisiert.
Diese Antagonismen gehen durch die beteiligten Individuen hindurch. Daher ist es - zumal angesichts der Gräuel eines Krieges - verständlich, dass das Geschehen in moralischer Perspektive als Kampf von Gut gegen Böse betrachtet wird. Was für das Handeln des Einzelnen gilt, wird auf ganze Völker projiziert: hier das Reich des Lichtes, dort das Reich der Finsternis. Man vergisst dabei, dass die Moralität das Verhältnis des Einzelnen zu seiner Gesinnung ist. Geschichtliche Bewegungen, die ganze Völker umfassen, lassen sich durch diese Kategorien nicht zureichend verstehen (abgesehen davon, dass die Selbstbehauptung von Moralität stets Heuchelei ist).
Eine moralisierende Betrachtung ist stets auch Propagandamittel. Denn sie gebiert den Fanatismus des Hasses auf einen absoluten Feind, den man nicht nur nicht verstehen will, sondern dem man den Status des Menschseins abspricht. Das untergräbt die Errungenschaft der völkerrechtlichen Einhegung des Krieges und erzeugt die Bereitschaft zu Gräueltaten, zum Vernichtungskrieg. So besteht ein Zusammenhang der moralisierenden Perspektive mit dem Fortschritt der Waffentechnik. Je größer das Vernichtungspotenzial der Waffensysteme, desto eher braucht man für deren Einsatz einen absoluten Feind. Massenvernichtungswaffen setzt man nur gegen "das Böse" ein.
Die Herausforderung für die politische Urteilskraft
Angesichts der eskalierenden Kriegsdynamik sollten wir uns fragen: Wie wirkt der Westen an der Erstellung eines absoluten Feindes mit? Ist es gerechtfertigt, Russen weltweit im Sinne einer unterstellten Kollektivschuld anzufeinden? Die gegenläufige Tendenz zum Aufbau eines absoluten Feindes sind Gesprächsimpulse. So nutzlos sie vordergründig sein mögen - sie haben per se ein Gutes, indem sie die Anerkennung des anderen als Menschen implizieren. Eine radikale Isolation droht zudem, den Despotismus in Russland - unabhängig von Präsident Wladimir Putin - zu zementieren. Und: Sie stärkt die Bindung zwischen Russland und Asien, vor allem China.
Zwar kann man, wie uns schon Aristoteles lehrt, einem despotisch organisierten Aggressorstaat nur durch Gewalt Grenzen setzen. Da es sich dabei um das größte Land der Erde handelt, das über rund 6.000 Atomsprengköpfen gebietet und - aus Sicht seiner Eliten - um seine Anerkennung in einer multipolaren Weltordnung kämpfen muss, können wir uns nicht die Naivität leisten zu meinen, die Sache wäre mit einer Isolationspolitik und Waffenlieferungen an die Ukraine getan. Es bedarf auch permanenter diplomatischer Offensiven und einer politischen Urteilskraft, die aus einem globalen Allgemeinwohlinteresse heraus ihre Worte mit äußerstem Bedacht wählt.
Dazu gehört die Bereitschaft, sich selbst und sein Handeln mit den Augen des anderen zu betrachten. Traditionell war das eine Stärke der Diplomatie der "Friedensmacht" Europa. Jenen Sirenenstimmen, die - auch aus kurzsichtigem Kalkül heraus - absolute Feindschaft schüren, sollte man mit Vorsicht begegnen.