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70 Jahre nach der Atombombe engagieren sich in Nagasaki viele Religionsvertreter gemeinsam gegen Atomwaffen.
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Nagasaki. Tatsuya Kusunoki sitzt in seinem offenen Gang an der Fensterfront und blickt auf den hübschen Garten im traditionellen japanischen Stil. "Als die Menschen vom Atom naschten, kosteten sie von der verbotenen Frucht", sagt der 77-Jährige. "Adam und Eva wurden deshalb aus dem Paradies vertrieben." Der Menschheit drohe das Gleiche, wenn sie nicht endlich die Augen öffne. "Wir müssen die Atomwaffen abschaffen!", fordert der agile, gebräunte Senior mit Nachdruck.
Kusunoki ist aus gutem Grund gegen Atomwaffen. Vor 70 Jahren erlebte er als Siebenjähriger, wie der amerikanische B29-Bomber "Bockscar" die Atombombe "Fat Man" über seiner Heimat Nagasaki abwarf. Wer am 9. August 1945 weniger als einen Kilometer vom Hypozentrum im Norden der Stadt entfernt war, hatte so gut wie keine Chance. Etwa 70.000 Menschen starben dort bis Ende 1945. Doppelt so viele, schätzt man, kamen im gleichen Zeitraum durch die Atombombe, die drei Tage vorher über Hiroshima explodierte, ums Leben.
Noch heute leiden viele "Hibakusha" - so nennt man die Überlebenden der Bombe in Japan - an den Folgen, wie Narben und Augenkrankheiten. Ihr Krebsrisiko liegt über dem Durchschnitt, vor allem bei denen, die zum Zeitpunkt der Bombe sehr jung waren. Kusunoki geht es gut. Bis vor kurzem stand er mehr als 50 Jahre lang dem Tempel Kogenji vor, idyllisch gelegen in den Hügeln am Rande von Nagasaki. Trotzdem geht er wie die meisten Hibakusha zweimal jährlich zu den kostenlosen Gesundheitschecks.
Dass der buddhistische Priester das Verhältnis von Mensch und Atomwaffen mit einem Bibelvergleich erklärt, kommt nicht von ungefähr. Die Grenzen zwischen den Religionen sind in Nagasaki fließend. Diese vereint, nicht zuletzt durch die gemeinsame Erfahrung der Atombombe, der Wunsch nach Frieden. Statt ihre Rituale separat durchzuführen, kämen jedes Jahr Religionsvertreter am Jahrestag zum Epizentrum der Bombe, um eine gemeinsame Zeremonie für den Frieden abzuhalten, erklärt der katholische Priester Dominic Chitoshi Noshita, ein Freund von Kusunoki und ein Jahr jünger als dieser. "Das ist der Stil von Nagasaki."
Viele Katholiken unter Opfern
Beide gehören einer konfessionsübergreifenden Gruppe an, die sich seit Jahrzehnten für die Abschaffung von Atomwaffen und in der Friedensbewegung engagiert. Unzählige Verletzte wurden im Tempel der Familie Kusunoki versorgt. Dieser war vergleichsweise wenig beschädigt, da ihn ein Hügel abgeschirmt hatte und er 3,5 Kilometer vom Hypozentrum entfernt liegt. Als kleines Kind musste Kusunoki mitansehen, wie viele Menschen infolge der Atombombe unter Schmerzen starben. "Das tiefe Stöhnen, das ich von dort hörte, machte mir Angst." Er wollte sich am liebsten nicht nähern. Damals sei ein fürchterlicher Geruch von Rauch und Leichen über die Stadt gezogen.
Unter den Opfern der Bombe waren überdurchschnittlich viele Katholiken. Die Kirchengemeinde Urakami verlor drei Viertel ihrer Mitglieder. "Manche Katholiken interpretierten die Atombombe als Prüfung ihres Glaubens, die ihnen Gott auferlegt hatte", sagt Kusunoki. Sein katholischer Freund Noshita sagt, dass Gott nie etwas Bedeutungsloses tue: "Ich denke, Gott wollte, dass sich Nagasaki für den Frieden einsetzt."
Obwohl Japan Opfer der Atombomben war, müsse sich das Land entschuldigen. Und zwar bei den ostasiatischen Nachbarn, sagt Kusunoki. Am 15. August jährt sich die Kapitulation Japans zum 70. Mal. Japan hatte Korea seit 1910 besetzt und China 1932 angegriffen. Dieses historische Erbe belastet die Beziehungen in Ostasien noch heute. "Bei den Tätern verblasst die Tat und sie vergessen diese, aber die Opfer erinnern sich daran, egal wie viel Zeit vergeht", sagt der Buddhist. Deswegen habe er Verständnis für die Forderung Koreas und Chinas nach einer ernst gemeinten Entschuldigung.
Seit Monaten wird spekuliert, welche Worte der japanische Premierminister in seiner Ansprache zum Jahrestag wählen wird und ob er sich an die "Murayama-Erklärung" halten wird. In der nach dem damaligen Regierungschef benannten Erklärung ist die Rede von "tiefem Bedauern und einer von Herzen empfundenen Entschuldigung" für Japans "Aggression" während des Zweiten Weltkriegs. Abe sagte zwar wiederholt, dass er dabei bleibe. Andererseits gilt Abe als glühender Nationalist. Dazu gehört auch, die Untaten japanischer Soldaten im Krieg kleinzureden, zum Beispiel das Massaker von Nanking mit hunderttausenden Toten.
Umgekehrt könne Kusunoki verstehen, dass Japan bisher vor einer stärkeren Entschuldigung zurückschreckte. Er sieht dahinter die Angst vor Geldforderungen von Korea und China. Diese sollten nicht nur klagen, sondern auch einmal öffentlich anerkennen, dass es japanische Gelder waren, die einen Teil ihres Wirtschaftswachstums ermöglichten. "Sie schaden sich alle gegenseitig", sagt Kusunoki. Dabei wüssten Japan, Korea und China, dass sie von besseren Beziehungen untereinander profitieren würden.
Wie viele Überlebende der Atombombe unterscheidet er nicht zwischen dieser und Atomenergie. Er möchte beide abgeschafft sehen. Diese Überzeugung hat die Havarie im AKW Fukushima Daiichi im März 2011 noch verstärkt. "Wir", sagt Kusunoki und meint die ökumenische Gruppe der Glaubensvertreter, "haben bisher nur gegen die Atombombe gekämpft. Aber ist das Problem der Atomkraft nicht eigentlich noch größer?" Angesichts der weitreichenden Folgen dieser Katastrophe könne er nicht verstehen, warum die japanische Regierung weiter auf die Atomkraft setze. Zwar sind alle Reaktoren seit zwei Jahren zu Prüfzwecken vom Netz. Doch das könnte sich schon Mitte August ändern, wenn ein AKW in Südjapan wieder hochgefahren werden soll. "Sie haben die Lektion nicht gelernt", sagt Kusunoki und seufzt.