Der europäische Blick über den Atlantik wird immer öfter von den Problemen der USA dominiert.
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Wie schon nach Vietnam und Watergate wähnt man die Supermacht USA einmal mehr vor dem unweigerlichen Abstieg: Staatskrise, drohende Zahlungsunfähigkeit, politischer Fundamentalismus, verrottende Infrastruktur, Heere Unversicherter und Unterprivilegierter, wöchentliche Schießereien, verlustreiche, aber wenig erfolgreiche Kriege und ein aufgeblähter, aber nicht sehr effizienter Sicherheitsapparat - alles erinnert ein wenig an die Dritte Welt oder Rom vor dem Untergang.
Angesagte Niedergänge dauern jedoch zumeist länger als man meint. Interessanterweise ist es aus US-Sicht vor allem Europa, dem die Apokalypse droht und das bestenfalls noch als Themenpark für amerikanische Touristen eine Zukunft hat. Solche wechselseitigen Klischees sind nachvollziehbar, aber wenig sinnvoll, will man verstehen, was wirklich vor sich geht. Die aktuelle politische Krise ist die Folge einer parteipolitischen Entwicklung, die in den USA etwas fundamental Neues darstellt und mit der das System noch nicht umzugehen gelernt hat.
Nicht anders als in Europa hat sich auch in den USA eine radikale rechtspopulistische Bewegung etabliert, ist dort aber in einer Großpartei aufgegangen. Während die europäischen Systeme früh gelernt haben, selbst im Angesicht radikaler Parteien zu regieren, da im Parlamentarismus die Regierungsmehrheit alles entscheiden kann, ist dies in Washington ein Novum. Gemäß der liberalen Tradition gibt es viele Blockademöglichkeiten, die es auch kleinen Gruppen erlaubt, Sand ins Getriebe zu streuen. Durch die traditionell starke Konsensorientierung der beiden US-Parteien konnten jedoch in der Vergangenheit solche Blockaden verhindert werden.
Wirtschaftlich unangefochten
Ob nun die Tea Party als Bewegung bizarrer oder verwerflicher ist als radikale populistische Parteien in Europa, mag dahingestellt sein, sicher ist, dass sie ein ähnliches Wählerspektrum bedient. Zu behaupten, dass Washington in Summe dysfunktionaler sei als beispielsweise die EU, ist ebenfalls gewagt. Denn immerhin wurde in Washington die Finanzkrise schneller bewältigt, die Bankenaufsicht und Bankenauflagen strenger und effektiver geregelt als in Europa und auch die Budgetkonsolidierung schreitet rascher voran. Heuer dürfte das Budgetdefizit um rekordverdächtige fünf Prozent gesenkt werden. Und in puncto Wirtschaftswachstum, Beschäftigungsquote, Durchschnittseinkommen und persönlicher Wohlstand liegen die USA immer noch um Längen vor Europa - vor allem wenn man den ganzen Kontinent vergleicht. Wer eben nur Österreich als Vergleichsbasis nehmen möchte, müsste sich einen der kleinen homogenen wohlhabenden Bundesstaaten im Nordosten der USA aussuchen, um nicht Äpfel mit Birnen zu vergleichen.
Wirtschaftlich haben die USA einen weiteren Trumpf im Ärmel: Die Erschließung von dramatisch billigerer Energie durch vor Ort entwickelte revolutionäre Techniken wird das Land nachhaltig transformieren. Durch die Nutzbarmachung von Schiefergas und Ölsand sollten sich die USA nicht nur zum größten Energieproduzenten entwickeln, sondern auch zu einem der größten Ölexporteure. Dies mag aus klimatischen Gründen eine wenig erfreuliche Aussicht sein, wird aber der US-Industrie entscheidende Wachstumsimpulse verleihen. Das spürt die europäische Konkurrenz wie die Voest bereits heute, und sie beginnt daher selbst, dort zu investieren.
Zudem wird gerne übersehen, dass Amerika unter den größten Exportnationen der Welt jene mit der diversifiziertesten Exportstruktur ist. Im US-Produktekatalog findet sich fast alles: milliardenschwere Hollywood-Filmexporte, die jährlichen Neuheiten der Gaming- und Software-Industrie, zahlreiche Finanzdienstleistungen inklusive fast aller weltweit verwendeten Kreditkarten, Produkte der Pharma-, Petrochemie- und Bio-Tech-Industrie, Maschinen- und Anlagebau sowie die gesamte Palette der Elektronikindustrie. US-Konzerne - noch vor kurzem unter Druck diverser staatlich-gelenkter Großfirmen aus Schwellenländern wie China - sind heute wieder die unangefochtene Nummer eins, wenn man die Rankings vergleicht. In diesen sind europäische Unternehmen vor allem im Bereich der Hochtechnologien kaum noch vorhanden.
Gesellschaftlich haben die USA in der Tat ein Problem mit Schusswaffen. Mehrere hundert Millionen sind im Umlauf. Jedoch würden auch noch so scharfe (und wünschenswerte) Gesetze diese nicht aus dem Verkehr ziehen, und geistig labile Täter würden über dunkle Kanäle wissen, wie man an eine Waffe kommt. Dennoch mag überraschen, dass in den USA der private Waffenbesitz bereits seit längerer Zeit rückläufig ist. Im Prozentsatz zur Gesamtbevölkerung hatten noch nie so wenig Amerikaner eigene Schusswaffen. Auch die Zahl der Schwerverbrechen und Morde ist seit den späten 1980er Jahren stark rückläufig. Die Innenstädte von New York, Washington oder Los Angeles - noch vor etwas mehr als einem Jahrzehnt ein höchst gefährliches Pflaster - sind heute längst familientauglich.
Aus wohlfahrtsstaatlicher Perspektive ist das soziale Netz der USA fraglos löchriger als jenes in Europa, dennoch gibt die Regierung die Hälfte des Budgets für Sozialpolitik aus. Und die soziale Vorsorge für Ältere ist, gemessen an den Beitragsleistungen, so großzügig, dass den USA in nicht allzu ferner Zukunft ein wirklicher Staatsbankrott droht. Auch die Millionenheere Nichtkrankenversicherter relativiert sich, wenn man sich die Zahlen im Detail ansieht. Dann merkt man, dass dies "nur" etwa 15 Prozent der Bevölkerung betrifft, von denen sich vor allem viele Junge gar nicht zwangsversichern lassen wollen. Ein nicht unerheblicher Teil ist es dagegen gewohnt, überhaupt nichts oder nur sehr wenig für die Krankenversicherung zu zahlen, da diese als Benefit vom Arbeitgeber zur Verfügung gestellt wird. Die Aussicht auf steigende Prämien erklärt auch, warum "Obamacare" allgemein weniger beliebt ist als angenommen.
Internet statt Straßen
Europäische Besucher stoßen sich gerne an der scheinbar daniederliegenden US-Infrastruktur - wirre Oberleitungsdschungel, holprige Straßen und rostige Brücken. Zwar sind die leeren Kassen aufgrund der niedrigen Steuern ein reales Problem für den Staat, doch ist eine Ursache auch darin zu sehen, dass die kurz nach dem Krieg aufgebaute Verkehrsinfrastruktur nach 50 Jahren nun überall gleichzeitig in die Jahre kommt und natürlich nicht in einem Stück erneuert werden kann. Umweltauflagen, Kompetenzstreitigkeiten und Bürgerinitiativen erschweren dies zusätzlich. Europa hat hier den Vorteil, dass der Infrastrukturausbau später erfolgte und daher der Zahn der Zeit noch weniger sichtbar ist. Allerdings gibt es hier auch kulturelle Kriterien - während sich in den USA kaum jemand an Oberleitungen stört, stellt etwa der ultraschnelle Internet-Zugang oder ein Dienstleistungsangebot rund um die Uhr samt entsprechender Logistik eine Priorität dar.
Im Bereich Forschung und Universitäten werden die USA bis auf Weiteres die führende Nation bleiben. Gemessen an Nobelpreisen, Patenten, Universitäts-Rankings, wissenschaftlichen Publikationen und Firmengründungen im High-Tech-Bereich liegen die USA weit vor der Konkurrenz, obwohl diese in Asien stark aufholt. Ein Fehler wäre es zu glauben, all dies spiele sich nur im Silicon Valley ab. Vor allem in North Carolina, Virginia sowie um Boston, Washington und Chicago und im Umfeld der mehr als 200 großen Forschungsuniversitäten findet ein Innovations-Boom ohne Gleichen statt.
Die USA stehen also gewiss nicht vor der Apokalypse, jedoch sind die politisch inszenierten Regierungskrisen und die zunehmend auseinanderklaffende soziale Schere für die Supermacht beschämend und bedeuten langfristig eine nachhaltige Schwächung. Sollten die USA ihre Form des politischen Extremismus nicht in den Griff bekommen oder mittelfristig die hochverschuldeten Sozialprogramme nicht sanieren, dann droht jedoch wirklich ein Abstieg ins Ungewisse.
Reinhard Heinisch, geboren 1963 in Klagenfurt, war viele Jahre lang Professor für Political Science an der University of Pittsburgh und ist seit 2009 Professor für Politikwissenschaft an der Universität Salzburg.