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Die vergessene Studentenbewegung Chinas

Von Thomas Seifert aus Peking

Politik
Im Rahmen der Studentenproteste der "Bewegung des 4. Mai" in Peking verhaftete Studenten können am 7. Mai an ihre Uni zurückkehren.
© Unbekannt/Quelle: cjtt.gov.cn

Die Bewegung des 4. Mai 1919 ist die erste politische Massenbewegung in der jüngeren chinesischen Geschichte.


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Peking. 2019 ist ein geschichtsträchtiges Jahr für China. Am 4. Juni 1989 - vor 30 Jahren - walzten Panzer der chinesischen Armee die Studentenbewegung am Platz des Himmlischen Friedens in Peking nieder. Am 1. Oktober 1949 - vor 70 Jahren - rief Mao Zedong vom Tor des Himmlischen Friedens aus die Volksrepublik China aus. Und am 4. Mai 1919 - vor genau 100 Jahren - protestierten Studenten gegen die Rückschrittlichkeit ihres Landes und die Demütigung Chinas nach dem Ende des 1. Weltkriegs. Denn obwohl China eigentlich zu den Siegermächten des 1. Weltkriegs gehört, wurden die sogenannten Konzessionsgebiete Deutschlands in der Provinz Schangdong (dort vor allem in der Jiaozhou-Buchtin Qingdao) nach dem Krieg Japan zugesprochen.

Drei Ereignisse, die "das Bild und das Selbstbild des heutigen China prägen", wie der aus Österreich stammende langjährige China-Korrespondent Bernhard Zand in einem Essay im dieswöchigen "Spiegel", der sich der "chinesischen Frage" widmet, schreibt.

Und tatsächlich: China ist eine seltsame Mischung aus Kontinuität und Brüchen. Einerseits wird von chinesischen Offiziellen immer wieder auf die chinesische Geschichte, die sich 5000 Jahre zurückverfolgen lässt, hingewiesen.

Andererseits findet man in den Büchern der Zeitgeschichte Chinas eben nicht nur diese drei bereits erwähnten signifikanten historischen Daten. Dass die Chinesische Republik aus der Xinhai-Revolution im Jahr 1911 hervorgeht - daran wird heute kaum mehr erinnert. Im Zuge dieses Umsturzes wurde die letzte kaiserliche Dynastie (Qing Dynastie) gestürzt und von Sun Yat-sen (Sun Yìxian) die erste chinesische Republik errichtet.

Weitere Brüche: Tragödien wie der Krieg Japans gegen China von 1937 bis 1945 oder der Bürgerkrieg zwischen den Truppen von Tschiang Kai-Shek (Jiang Jièshí) und Mao Zedong von 1927 bis 1949. Unter Mao gab es brutale "Säuberungswellen" wie die Anti-Rechtskampagne von 1957 bis 1959, als Mao Dissidenten, die sich zugunsten der Marktwirtschaft und gegen die Kollektivwirtschaft aussprachen, inhaftieren und in vielen Fällen ermorden ließ. In einer schrecklichen Hungersnot, die heute als Folge von Maos desaströsem Schock-Modernisierungsprojekt des "großen Sprungs nach vorn" (1958-1961) gedeutet wird, kamen mindestens 15 Millionen Menschen um, und die Kulturrevolution (1966-1976), mit der der immer mehr vergreisende Mao seine Position in Staat und Partei festigen wollte, forderte mindestens 400.000 Todesopfer.

Eine Beschäftigung mit der "Bewegung des 4. Mai" (Wusì Yùndòng) ist - genau 100 Jahre danach - aber besonders lohnend: Denn das Leitmotiv dieser Bewegung - radikale Modernisierung des Landes und nationale Renaissance - ist auch im heutigen politischen Diskurs im Reich der Mitte von Bedeutung.

"Aufklärung und Rettung"

Die Bewegung des 4. Mai entstand vor dem Hintergrund einer korrupten Herrschaftselite, nationaler Demütigung und sozialen Elends. Der chinesische Intellektuelle und Professor an der Tsinghua-Universität, Wang Hui, schreibt in seinem im Jahr 2016 erschienen Buch "Chinas Twentieth Century Revolutions" von der "dualen Transformation von Aufklärung und Rettung". Und Wang erinnert daran, dass die Aktivisten des 4. Mai ihre Gruppe als "radikale Bewegung" verstanden. Sie versuchten, die Massen auf den Straßen anzusprechen. Am Morgen des 4. Mai zogen zwischen 3000 und 15.000 Studenten vor den Tiananmen-Platz. Auf den Bannern standen Slogans wie: "China ist das China der Chinesen!" und "Bestraft die Vaterlandsverräter!" Vor dem Haus eines Politikers kam es zum Tumult, es fielen Schüsse und einige Studenten wurden verhaftet - am 7. Mai wurden sie auf Druck der Demonstranten aber wieder auf freien Fuß gesetzt. Die ikonoklastischen Aktivisten der Bewegung des 4. Mai sahen im Konfuzianismus einen Grund für die Rückständigkeit ihres Landes und forderten eine Hinwendung zu westlichen Werten. Denker dieser Bewegung wie der Intellektuelle Chen Duxiu näherten sich dann immer mehr dem Kommunismus an: "Wir müssen zunächst den für die Gesellschaft und den Staat westlicher Art grundlegenden neuen Glauben an die menschliche Gleichberechtigung einführen", schrieb Chen. Die Bewegung des 4. Mai bereitete somit auch den Weg für den Kommunismus im Reich der Mitte auf, die chinesische KP wurde zwei Jahre und zwei Monate später, am 1. Juli 1921 in Schanghai gegründet.

Im Essay-Sammelband "Perspectives on Modern China" aus dem Jahr 1991 wird von einigen Autoren eine direkte Linie von der Bewegung des 4. Mai zu Maos kommunistischer Revolution nach 1949 und auch zur Reform und Öffnungspolitik von Deng Xiaoping nach 1979 gezogen. Beide kommunistischen Führer hätten - so wie die Anführer der Bewegung des 4. Mai - Chinas Rückstand gegenüber dem Westen verringern wollen.

Der 1993 verstorbene US-Sinologe Lloyd Eastman, einer der Autoren des Sammelbands, stellt eine Verbindung zwischen der Bewegung des 4. Mai und den Stundentenprotesten von 1989 her: Die Bewegung des 4. Mai sei ein Aufbegehren gegen die "politische Impotenz" des chinesischen Staates gewesen, schrieb Eastman. Nach 1949 habe dann Mao ein mächtiges kommunistisches Regime aufgebaut. Die Tiananmen-Proteste von 1989 und die Unfähigkeit von Deng Xiaoping, die Studenten-Demonstrationen ohne Blutvergießen zu beenden, hätten gezeigt, dass der chinesische Staats aufs neue politisch impotent geworden war. Zudem: Die Studentenproteste von 1989, die sich aus dem Begräbnis des liberalen Parteigeneralsekretärs Hú Yàobang entwickelten, bekamen damals am 4. Mai neuen Schwung.

Interessant ist auch, dass Eastman in seinem Aufsatz auf eine ökologische Krise hinwies, die den chinesischen Staat damals fest im Griff hatte: Von der Ming-Dynastie (1368-1644) bis 1850 war China von 65-80 Millionen auf 450 Millionen angewachsen. Landübernutzung, Zersiedelung, Mangel an Brennholz und Nahrungsmitteln sowie Bodenerosion (und damit verheerende Überschwemmungen) waren die Folge und ließen die Bevölkerung verarmen. All das habe im Vorfeld den Umsturz 1911 und die Proteste des 4. Mai befeuert.

Dass die Bewegung des 4. Mai auch in der Gegenwart von Bedeutung ist, realisiert auch die chinesische Führung: Den Menschen wurden dieses Jahr vom 1. bis zum 4. Mai Kurzferien gegönnt.