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"In zweifelhaften Fällen entscheide man sich für das Richtige", sagte Karl Kraus. Exakt zehn Jahre sind seit der Katastrophe in Kaprun vergangen. Ob man sich für das Richtige entschied, bleibt juristisch umstritten. 155 Menschen starben und hinterließen ein bis heute nicht fertig aufgearbeitetes Drama. Nur zwölf Personen überlebten, weil sie den Tunnel nach unten liefen.
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Die üblichen Sicherheitsmaßnahmen wurden von den Bergbahnen nicht gewährleistet, wie österreichische und deutsche Gutachten unabhängig festgestellt haben. Manfred Seiss, der Richter im Kaprun-Strafverfahren, sprach am 19. Februar 2004 alle 16 Beschuldigten im Zusammenhang mit dem Inferno am Kitzsteinhorn frei. Er nahm die Gutachten zur Kenntnis, begründete aber sein Urteil pathetisch: "Gott hat für einige Minuten das Licht im Tunnel ausgemacht."
Anlässlich des zehnten Jahrestags wurden die Hinterbliebenen medial mit widersprüchlichen Informationen zu den internationalen, juristischen Auseinandersetzungen und zur Aufarbeitung der Vorgänge in der ausgebrannten Gletscherbahn reichlich eingedeckt. Die heutige Frage einer breiten Öffentlichkeit könnte sein: Was war oder ist schuld? Jedes Opfer braucht zur Genesung der Psyche ein menschliches Antlitz. Hier gibt es keines. Unter den Hinterbliebenen ist es auch zu persönlichen und finanziellen Alltagstragödien gekommen.
Als die deutsche Wochenzeitung "Die Zeit" im Sommer 2009 grobe Verfehlungen in den Kaprun-Verfahren aufdeckte, kam neuer Schwung in viele Fragestellungen. Der damalige Justizminister Dieter Böhmdorfer wurde im ORF dazu befragt. Vollmundig erklärte er, der Rechtsstaat Österreich sei "Weltspitze" und Kaprun ein "Herzeige-Verfahren" gewesen. Auf neue Beweismittel aus Deutschland angesprochen, stellte er fest. "Dass sich Deutsche bei uns wichtig machen, von der sogenannten höheren Warte, das kennen wir, das halten wir aus!" In der ORF-Sendung "Im Zentrum" sprach Böhmdorfer in viel amikalerem Ton von den gerichtlichen Vorgängen und internationalen Vorwürfen. Die von ihm eingesetzte "Versöhnungskommission" diente unter anderem der Förderung, dem Auf- und Ausbau der Tourismusregion Kaprun, wobei mehr Bedacht auf wirtschaftliches als auf menschliches Auslangen gelegt wurde.
Politische Affären und Skandale in Österreich kennt man zur Genüge und deren manchmal fragwürdige Aufarbeitung auch. Im internationalen Rampenlicht des Kaprun-Prozesses stand der Einzelrichter Seiss unter enormem Druck und verantwortliche Staatsanwälte durften nicht zur Gänze ihrer Arbeit objektiv nachgehen. Überlebende und Hinterbliebene verlangen noch heute eine glaubhafte Erklärung für die Katastrophe und die dann erfolgten Freisprüche. Was ist geschehen? Die Aufklärung ließ nicht nur zu wünschen übrig, sondern auch alle Wünsche nach Aufklärung blieben offen. Viele der Hinterbliebenen, das sollten sich die noch heute Verantwortlichen vor Augen halten und auch in den Ohren klingen lassen, wollen eine lückenlose Aufklärung darüber, warum so etwas passieren konnte.
Alexander Lass lebt als freier Journalist in Wien.