Lange Zeit galt das russische Internet als das letzte Refugium der Meinungsfreiheit in Russland. Vor den Parlamentswahlen am 18. September hat der Kreml eine Reihe von Initiativen gestartet, um das Internet weiter unter Kontrolle zu bringen.
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Moskau - Russland im Jahr 2027. Ein Land, beherrscht von einem allmächtigen Gossudar und umgeben von einer "Großen Russischen Mauer", vom Westen abgeschnitten. Es ist eine düstere Zukunftsvision, die der russische Schriftsteller Wladimir Sorokin in seinem Buch Der Tag des Opritschniks entworfen hat. Doch eine neue Strategie rückt Fiktion und Realität näher aneinander – zumindest in der virtuellen Welt: Kremlnahe Oligarchen und Beamte arbeiten daran, ein "national souveränes Internet" aufzubauen, um es von äußeren Einflüssen – namentlich von den USA – abzuschotten.
Das Internet, auch "RuNet" genannt, galt lange Zeit als das letzte Refugium der Meinungsfreiheit in Russland. Doch mit dem Arabischen Frühling 2011, der über Twitter und Facebook organisiert wurde, sowie mit den russischen Massenprotesten im selben Jahr hat der Kreml die Meinungsfreiheit auch im Netz eingeschränkt. Seit 2012 – dem Beginn der dritten Amtszeit Wladimir Putins - wurden Internetseiten blockiert und neue Internet-Gesetze erlassen. Für die Zensur im Netz holten sich russische Behörden neuerdings Rat bei den Chinesen: Im Frühling fand eine russisch-chinesische Konferenz zur IT-Sicherheit in Moskau statt. Unter den Gästen: Fang Binxing, der als Architekt der chinesischen Firewall gilt. Für das Jahr 2016 sind unter anderem "gemeinsame Initiativen auf internationaler Ebene" geplant, so ein Statement der Veranstalter.
Der Kreuzzug gegen das "RuNet" geht indes munter weiter. Ende Juni hat das russische Parlament zudem so genannte "Anti-Terror-Gesetze" verabschiedet, die die Kontrolle auf das Internet massiv ausweiten. Demnach müssen russische Telekomanbieter künftig die Internetdaten ihrer User für sechs Monate, Metadaten sogar für drei Jahre speichern. Wer in den sozialen Medien zu "Extremismus aufruft" oder gar "rechtfertigt" – ein in russischer Praxis sehr dehnbarer Begriff - kann künftig mit bis zu sieben Jahren Haft bestraft werden. Die russische Internetplattform "Meduza" bezeichnet das Gesetzespaket als "eines der repressivsten in der post-sowjetischen Geschichte" des Landes.
Dass die russische Führung künftig aber vor allem auf Vorratsdatenspeicherung setzen will, sorgt für heftige Kritik unter Experten. So würde das Gesetz nicht helfen, Terrorismus zu bekämpfen, sondern im Gegenteil, "den Heuhaufen, in dem man nach der Nadel sucht, noch größer machen", so der kremlkritische IT-Spezialist Leonid Wolkow zu Bloomberg. Russland habe schlichtweg weder die Software, noch genügend Personalressourcen, um derartige Datenmengen zu verarbeiten, so der russische Journalist Andrej Soldatow.
Überhaupt wurde unter Präsident Wladimir Putin die Repressionen auf die Medien stark ausgeweitet. Erst zuletzt wurde die Chefredaktion der angesehenen Online-Zeitung RBK auf Druck der Behörden ausgetauscht. Bei der Zensur des Netzes tut sich der Kreml dennoch schwerer, als bei TV-Kanälen oder Zeitungen: Wenn es bisher reichte, Druck auf Medienmacher auszuüben, funktioniert das im Internet nicht mehr. Das beste Beispiel ist Vkontakte, das russische Pendant zu Facebook: Nachdem sich Vkontakte-Gründer Pawel Durow geweigert hatte, dem russischen Geheimdienst sensible User-Daten zu übergeben, wurde der Druck gegen ihn so groß, dass er das Land verlassen musste. Das hinderte die User des sozialen Netzwerks freilich nicht daran, auch weiterhin pikante Informationen, wie Soldaten-Selfies aus der Ostukraine, auf dem Portal hochzuladen. "Er (Putin, Anm.) ist es gewohnt, Hierarchien und Organisationen über ihre Chefs unter Druck zu setzen", schreiben der oben genannte Journalist Soldatow und seine Kollegin Irina Borogan in ihrem Buch The Red Web. The Struggle Between Russia’s Digital Dictators and the New Online Revolutionaries. "Aber Netzwerke haben keine Spitze, sie sind horizontal."
So haben sich die "Internet-Revolutionäre" immer wieder Wege gefunden, um die Einschränkungen zu umgehen und gesperrte Seiten zugänglich zu machen. Seit Herbst gilt zudem ein Gesetz, das ausländische Internetkonzerne verpflichtet, ihre Server auf russischem Territorium einzurichten. Während die Behörden angeben, dadurch Daten von russischen Bürgern vor der NSA — der Whistleblower Edward Snowden befindet sich seit 2013 in Moskau im Exil - zu schützen, orten Beobachter den Versuch, die Kontrolle über die russischen Internetuser auszuweiten. Allerdings mit mäßigem Erfolg: Die drei Internetgiganten Google, Facebook und Twitter haben sich dem Server-Gesetz bis dato widersetzt. Zuletzt wurde die Frist, die im September 2015 ausgelaufen ist, bis Anfang 2016 verlängert. Bis dato ist aber nichts passiert.
"Russlands Gegenwart lässt sich nur noch mit den Mitteln der Satire beschreiben", sagte Sorokin selbst über seine anti-utopischen Romane. Inwiefern sich die "Große russische Mauer" zumindest in der virtuellen Welt zur Gegenwart wird, wird sich noch zeigen.