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Die Versammlung der Mr. Hydes von Brüssel

Von Isolde Charim

Politik

Wird die EU-Wahl nicht ernst genommen, würde das - laut Jürgen Habermas - "das europäische Projekt ins Herzen treffen".


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Ist Ihnen schon aufgefallen, dass europäische Regierungschefs auf der Fahrt nach Brüssel einen gefährlichen Wandel durchmachen? Eine massive Persönlichkeitsveränderung - vom demokratisch gewählten Staatschef zum feudalen Fürsten. Als solche halten sie sich zwar gegenseitig in Schach, agieren aber gemeinsam gegen das Fußvolk.

Dr. Jekyll und Mr. Hyde nennt der deutsche Soziologe Hauke Brunkhorst dieses doppelte Gesicht Europas - nach dem berühmten Horrorfilm, dem Paradefilm zur Persönlichkeitsspaltung. Nur handelt es sich bei den europäischen Machthabern nicht um eine psychische Störung, sondern um eine institutionelle.

Im derzeitigen Gezerre um die Besetzung der EU-Spitzenposten, im Pochen des Europäischen Rats (also der Versammlung der nationalen Regierungschefs) auf ihrem Recht, nein, ihrem Anspruch, den EU-Kommissionspräsidenten eigenmächtig, unabhängig vom Wahlausgang vorzuschlagen, zeigt sich diese institutionelle Störung ganz genau. Denn das selbstherrliche Vorgehen des Rats ist nichts anderes als die Missachtung von Parlament und Wählern gleichzeitig. Ein demokratisches Fiasko: Die Weigerung, den siegreichen Spitzenkandidaten vorzuschlagen, setzt sich sowohl über den Beschluss des Europäischen Parlaments als auch über die europäischen Wähler hinweg. Es missachtet die Europawahl als tatsächliches Wählervotum. Millionen Menschen in Europa haben gewählt - aber ihre Wahl ist für die Brüsseler Fürsten nicht bindend. Das ist die Botschaft.

In einem vielbeachteten Interview hat Jürgen Habermas - der nicht nur ein deutscher Philosoph, sondern eine intellektuelle Instanz ist - dazu gemeint: In den Jahren der Krise hätten die europäischen Regierungschefs eine "übergriffige exekutive Macht" ausgebaut. Diese Macht ist aber nicht nur übergriffig, sie ist auch schizophren: "zu Hause" demokratisch gewählt und ihren Bürgern verpflichtet, in Brüssel aber ungezähmt herrschend. Das ist eine institutionelle Schizophrenie.

Die Struktur der EU, die nur ein provisorisches Gerüst für eine zukünftige tatsächlich europäische Demokratie sein sollte, hat sich "verhärtet", so der britische Historiker Perry Anderson.

So ist der Rat zu einer Versammlung von europäischen Feudalherren geworden, einem Tummelplatz für Brüsseler Mr. Hydes - auch wenn diese Misters manchmal eine Frau sind.

In dem Interview meinte Habermas auch, es gehe um die Umstellung vom "bisherigen Elitemodus auf die Beteiligung des Einzelnen". Das aber würde heißen, dass jeder Einzelne glauben können darf, dass er, dass seine Stimme auch tatsächlich zählt. Wird die Wahl nicht ernst genommen und eine andere Person als einer der beiden Spitzenkandidaten vom Kreis der Regierungschefs vorgeschlagen, dann würde das - so die schöne Formulierung von Jürgen Habermas - "das europäische Projekt ins Herzen treffen".

Wird die Wahl aber ernst genommen und bekommen die Stimmen der Bürger der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union ihr tatsächliches demokratisches Gewicht, dann würde dies die Versammlung der Mr. Hydes ins Herzen treffen. Kein Wunder, dass sie sich dagegen wehren.