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Die Verschwundenen des spanischen Bürgerkriegs

Von Jörg Vogelsänger

Politik

Madrid - Porfirio, Francisco, Eduardo und Joaquin waren überzeugt, das Richtige zu tun. Als die vier republikanischen Milizionäre sich am 5. November 1937 im Rathaus des nordspanischen Dorfes Palacios del Sil stellten, dachten sie nur an eines: Sie wollten zurück zu ihren Familien. Doch diese sahen sie nie wieder. Noch in der darauf folgenden Nacht wurden die vier Männer zusammen mit anderen Kameraden in einen Lastwagen gepfercht und wenige Kilometer weiter im Lichte der Scheinwerfer von faschistischen Soldaten hingerichtet. Die Leichen verscharrten diese in einer eilends ausgehobenen Grube nahe Piedrafita de Babia in der Gemeinde El Bierzo.


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Ein Dorfbewohner entdeckte das Massengrab Tage später zufällig, weil Leichenteile aus dem Boden ragten. Doch als er in dem Ort von seinem Fund berichtete, hatte der Pfarrer nur diesen Kommentar übrig: "Da seht ihr mal, was für Teufel diese Roten sind. Selbst die Erde will sie nicht haben!" Nie wieder wurde in dem Dorf öffentlich über jene Nacht gesprochen.

Das Thema blieb auch tabu, als der Spanische Bürgerkrieg (1936 - 1939) längst vorbei und das Land 1975 nach fast 40 Jahren Diktatur zur Demokratie zurückgekehrt war. Obwohl alle wussten, was damals geschehen war und Angehörige all die Jahre Blumen an die Grube brachten, wagte niemand, den Mund aufzumachen. Erst jetzt, fast 65 Jahre danach, ist die Mauer des Schweigens durchbrochen worden. Denn die Leichen von Porfirio, Francisco, Eduardo, Joaquin und drei weiteren Kameraden wurden exhumiert, DNA-Tests zur genauen Identifizierung sind im Gange. Zu verdanken ist dies dem Madrider Journalisten Emilio Silva.

Der 36-Jährige hatte im Spätsommer 2000 die Leiche seines Großvaters, auch ein Republikaner, in einem anderen Massengrab in El Bierzo entdeckt und daraufhin die "Vereinigung zur Rückgewinnung des historischen Gedächtnisses" (ARMH) gegründet. Mit Hilfe von Freiwilligen und Spendengeldern hat sich diese zum Ziel gesetzt, "all den vielen Menschen den Platz in der Geschichte zu geben, der ihnen wegen ihres Kampfes für die Freiheit zusteht".

Rund 35.000 Opfer der Faschisten liegen nach seinen Schätzungen heutzutage noch in ganz Spanien in namenlosen Massengräbern. Offiziell gelten sie als vermisst oder "verschwunden". Unter ihnen sind auch Mitglieder der Internationalen Brigaden, wie sich die bis zu 60.000 Freiwilligen aus 60 Ländern nannten, die den Volksmilizen im Kampf gegen die letztlich siegreichen Falangisten des späteren Diktators Francisco Franco zur Hilfe geeilt waren. Hunderttausende Menschen kamen auf beiden Seiten in dem Krieg um.

"Auch deutsche Opfer sind damals einfach verscharrt worden", ist Silva überzeugt. Dass die Zeit des Bürgerkrieges und des Franco-Regimes in Spanien nach Meinung vieler Historiker geradezu verdrängt und nie richtig aufgearbeitet worden ist, hängt mit einem "Pakt des Schweigens" zusammen, mit dem der Übergang zur Demokratie erleichtert werden sollte. So verwundert es nicht, dass Initiativen wie die Silvas von offizieller Seite praktisch ignoriert werden, wie er beklagt.

Seine Organisation hat deshab UNO-Menschenrechtskommissarin Mary Robinson gebeten, sich einzuschalten: Ein 1992 von Spanien unterzeichnetes Abkommen verpflichtet das Land nach Silvas Worten, mit staatlichen Geldern nach den Vermissten zu suchen. Die Lage vieler Massengräber ist ohnehin bekannt - wie in El Bierzo war nur bisher niemand bereit, darüber zu reden.

Und inzwischen haben sich bei Silva mehr als 1.000 Hinterbliebene gemeldet. "Es ist beschämend, dass die politische Klasse unseres Landes es hingenommen hat, dass Tausende Witwen gestorben sind, ohne ihre Ehemänner identifiziert, geschweige denn ordentlich beigesetzt zu haben", sagt er.

Das Argument, mit seiner Initiative würden alte Wunden aufgerissen, lässt der 36-Jährige nicht gelten. "Vielmehr werden sie geheilt." Das meint auch Isabel, die heute 85 Jahre alte Schwester des "verschwundenen" Eduardo. "Ich möchte nur, dass er auf dem Friedhof beerdigt wird. Das ist der einzige Ort, wo es keine Feinde gibt."

Wie schwierig jedoch nach fast 65 Jahren Versöhnung sein kann, ist gerade in Palacios del Sil zu sehen: Dort, wo Eduardo im November 1937 von dem Erschießungskommando abgeführt wurde, ist die Hauptstraße noch heute nach Diktator Francisco Franco benannt. Und an Isabels Haus hat jemand ein Hakenkreuz geschmiert.