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Konfliktforscher Ulrich Schneckener zur Rolle von Milizen.
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"Wiener Zeitung": Vor wenigen Tagen ereignete sich im Irak der schwerste Anschlag seit Jahren. Der Islamische Staat (IS) wird in den Medien häufig als Terrormiliz bezeichnet. Ist das problematisch?
Ulrich Schneckener: Dieser Begriff erklärt überhaupt nichts, er ist eine mediale Erfindung. In der Wissenschaft würde ihn kein seriöser Forscher verwenden. Beim IS geht es um Terrorismus, zumindest außerhalb der unmittelbaren Kriegs- und Konfliktregionen. Vor Ort kombiniert der IS klassische militärische Guerilla-Methoden mit Terrorismus. Wie jetzt in Bagdad oder in Damaskus und überall dort, wo der IS nicht präsent ist, benutzt er terroristische Aktionen. Da wo er Ländergewinne machen konnte, agiert er militärisch. Der IS versucht, seine Herrschaft in den eroberten Gebieten zu etablieren. In Syrien und im Irak agiert er teilweise wie eine Miliz, weil er dort die Bevölkerung terrorisiert, aber gleichzeitig Sicherheitsfunktionen übernimmt und etwas Ähnliches wie Strafverfolgung macht - natürlich in seinem Sinne.
Für Ihre noch unveröffentlichte Studie haben Sie untersucht, welche Rolle Paramilitärs in Kolumbien und Guatemala, die Peschmerga im Nordirak und die Amal-Miliz im Libanon spielen. Wie schwierig war es, an Informationen zu gelangen?
Meine Mitarbeiter waren mehrmals monatelang vor Ort und haben viele Interviews geführt. Es ist oft sehr schwer, an die Kämpfer heranzukommen. Im Nordirak war es relativ leicht, weil die Strukturen der Peschmerga völlig offen sind. In Kolumbien war die Lage sehr viel komplizierter. Dort wurden die Paramilitärs demobilisiert, existieren aber tatsächlich als bewaffnete Banden weiter. Das ist für die Forschung ein sehr schwieriges Umfeld.
Das sind sehr unterschiedliche Konflikte und Auftraggeber. Was bringt der Vergleich?
Milizen sind in vielen Staaten der Welt verbreitet, in Lateinamerika, Afrika, dem Nahen und Mittleren Osten. Dort existieren überall Milizen, die für politische oder wirtschaftliche Eliten arbeiten, aber auch für Großgrundbesitzer, Händler und nicht selten für Parteien und staatliche Einrichtungen. Das ist ein hochinteressantes Phänomen, weil es viel darüber aussagt, wie in diesen Ländern Sicherheit und Unsicherheit produziert werden. Natürlich sind die Unterschiede enorm. Es gibt Milizen, die gegründet werden, um gegen eine Guerilla-Bewegung zu kämpfen. Da kommt also die Miliz als dritter Akteur dazu, wie in Kolumbien. Es gibt aber auch den Fall, dass ein politisches Lager sich gegen andere politische Gruppen verteidigen will. Das haben wir im Libanon. Dort hat fast jede Bevölkerungsgruppe, ob Christen, Schiiten oder Sunniten, über eigene bewaffnete Verbände verfügt. Dieses Modell hat in den Bürgerkrieg geführt. Bis heute ist diese Bewaffnung latent vorhanden und der Rückgriff auf die Milizen prinzipiell möglich.
Wie unterscheiden sich Milizen von privaten Sicherheitsfirmen, die beispielsweise während des Irak-Kriegs in die Kritik gerieten?
Milizen sind viel weiter verbreitet als private Sicherheitsdienste, bei denen es sich um kommerzielle Anbieter handelt. Das heißt nicht, dass bei den Milizen nicht auch Geld fließt, aber sie sind in viel stärkerem Maß auch politische Akteure. Bei einer Sicherheitsfirma gibt es ein klares Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Verhältnis mit vertraglichen Abmachungen. Das ist eine andere Konstellation als eine bewaffnete Gruppe, die selbst auch Politik macht.
Welchen Unterschied macht es denn für die Bevölkerung?
Private Sicherheitsfirmen spielen auch eine wichtige Rolle im Bereich des Personen- und Gebäudeschutzes. Aber Milizen spielen eine wesentlich stärkere Rolle, weil sie stärker lokal verankert sind. Im Irak sind die privaten Sicherheitsfirmen nur deshalb, weil sie von der US-Armee im Zuge der Invasion und der Besatzung angeheuert wurden. Sie sind Fremdkörper in der irakischen Bevölkerung und werden auch so empfunden. Es gibt aber auch Übergänge: In Guatemala haben die Milizionäre das als Geschäftsmodell erkannt und eine eigene Sicherheitsfirma gründeten. Das ist die Kommerzialisierung des Milizwesens.
Was bedeutet es, wenn der Staat sein Gewaltmonopol verliert?
Das ist ein Riesenproblem. Wir haben Konstellationen, wo der Staat an der Milizbildung beteiligt war. In Kolumbien hat es beispielsweise Ende der 1960er Jahre ein Gesetz gegeben, das den Aufbau von Milizen regelrecht erlaubt hat. Der Grund war, dass der Staat nicht in der Lage war, diesen Schutz zu leisten. Außerdem haben die Großgrundbesitzer Druck gemacht, die Milizen zu legalisieren. Für den Staat ist das sehr ambivalent, denn er ist oft gleichzeitig Urheber und Opfer des Problems. Das Gewaltmonopol wird unterminiert.
Ein Staat ist schwach, engagiert deshalb diese teils unkontrollierbaren Kämpfer - und wird dadurch noch schwächer.
Genau. Es gibt oft eine Dynamik, die man dann nicht mehr unter Kontrolle bringt. Der Geist, den man nicht mehr in die Flasche bekommt. Das ist auch das klare Ergebnis unserer Studie: In allen Fällen gibt es Formen der Verselbständigung der Gewalt, selbst in Fällen, wo die Verbindung zum Staat relativ eng ist. In Kolumbien hat sich der paramilitärische Bereich zu einem ganz eigenen Komplex entwickelt, der den Bürgerkrieg mit vorangetrieben hat. In Guatemala wurde die Miliz vom Staat enger geführt und nach dem Bürgerkrieg relativ schnell demobilisiert. Es gibt aber Restelemente. Ehemalige Kämpfer gründen private Sicherheitsfirmen. Es gibt dort nach wie vor ein hohes Gewaltniveau, ganz klar ein paramilitärisches Erbe. Daraus entstehen auch kriminelle Organisationen. Diese Effekte lassen sich überall feststellen.
Wie gefährlich sind Milizen für die Bevölkerung?
Milizen bedeuten oft nur Sicherheit für besonders privilegierte Teile der Bevölkerung. Davon können manchmal auch andere Gruppen profitieren, weil vielleicht ein Ort sicherer geworden ist, und sich die Menschen wieder auf die Straße trauen. Das Problem ist, dass es keine Grenze mehr gibt zwischen staatlicher und nicht-staatlicher Gewalt. Die Bürger wissen oft nicht mehr, wer für welche Gewalt verantwortlich ist. Das führt dazu, dass die Menschen dem Heer und der Polizei misstrauen. Es gibt Fälle, in denen Männer tagsüber als Polizisten arbeiten und nachts als schwarze Sheriffs das dreckige Geschäft erledigen, das ihnen die Uniform tagsüber verbietet. Das erleben Menschen in den Städten Brasiliens. Das zerstört das Vertrauen in den Staat.
Was müsste passieren?
Es gibt natürlich Programme der EU und der UNO. Aber Sicherheit ist ein hochkomplexes Thema, das nie von außen gelöst werden kann. Höchstens begleitet und unterstützt. Es geht hier um den Kernbereich von politischer Macht. Gewalt ist in diesen Gesellschaften als Möglichkeit zur Erlangung von Macht nicht ausgeschlossen. Manchmal latent und manchmal ganz offen, um die andere Seite einzuschüchtern. In Österreich hatten wir in den 1920er Jahren auch Akteure, die das versucht haben. Seit Ende des Zweiten Weltkriegs gibt es bei uns in Europa die Übereinkunft, dass Gewalt kein politisches Mittel sein darf. Das ist eine Errungenschaft, die überhaupt nicht selbstverständlich ist.
Sie haben kürzlich an einer Konferenz im österreichischen Verteidigungsministerium teilgenommen und waren nicht ganz einverstanden mit einigen Rednern . . .
Es gab dort Stimmen, die forderten, dass Milizen im öffentlichen Raum eine stärkere Rolle haben sollten. Aber wie soll das aussehen? Werden Waffen an Bürger ausgeteilt? Patrouillieren dann in den Städten und Dörfern Milizangehörige? Es gibt eigentliche eine klare Trennung zwischen Zivilbevölkerung und staatlichem Sicherheitsapparat, der auch entsprechend ausgebildet ist. Bürgerwehren und selbsternannte Ordnungshüter stehen für eine sehr gefährliche Entwicklung.
Ich kann generell nur davor warnen, den öffentlichen Raum stärker zu militarisieren. Klar, die bestehende Infrastruktur sollten wir besser nutzen. Aber Waffen im öffentlichen Raum schaffen neue Risiken. In Brüssel stehen beispielsweise tausende Soldaten auf den Plätzen. Das ist aber nur eine symbolische Sicherheit. Im Fall eines Anschlags können diese Soldaten nicht viel ausrichten. Im Gegenteil: Man fürchtet, es könnte nur einer dieser Soldaten eine falsche Entscheidung treffen und im falschen Moment abfeuern.
Ulrich Schneckener, Jahrgang 1968, lehrt Internationale Beziehungen sowie Friedens- und Konfliktforschung an der Universität Osnabrück. Er studierte Politikwissenschaft, Soziologie und Geschichte in Mainz, Leipzig und London, bevor er an der Uni Bremen promovierte.