In 30 Jahren Unabhängigkeit hat sich in Weißrussland spät, aber doch ein Nationalgefühl entwickelt. Für Russland ist das ein Problem - ist eine militärische Intervention Moskaus in Belarus wie in der benachbarten Ukraine realistisch?
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Ist die Situation in Weißrussland eigentlich vergleichbar mit jener in der Ukraine vor mehr als sechs Jahren? Vieles spricht dafür: Wie die Ukraine, so liegt auch Weißrussland zwischen Russland und dem Westen. Wie die Ukraine, so ist auch Weißrussland für den Kreml von eminenter strategischer und kultureller Bedeutung. Wie die Ukraine, so war auch das Gebiet der heutigen Republik Belarus über Jahrhunderte Einflüssen sowohl aus dem Westen wie aus dem Osten ausgesetzt.
Weißrussland blickt kulturell in beide Richtungen, es gibt auch viele römische Katholiken und Polen im Land. Jahrhundertelang gehörte das Gebiet zum zunächst heidnisch geführten Großfürstentum Litauen. Eine Vorform des Weißrussischen war in dem Fürstentum als Kanzleisprache in Gebrauch, die Untertanen waren großteils orthodox. Als dessen Herrscher zum Katholizismus konvertierte und als Wladyslaw II. Jagiello den polnischen Thron bestieg, entstand 1385 die Großmacht Polen-Litauen, der Dauerrivale Moskaus in Osteuropa.
Russisch ist Hauptsprache
Die orthodoxen Weißrussen spielten fortan nur noch die zweite Geige im Land - ähnlich wie in vielen Teilen der Ukraine, die auch zu Polen-Litauen gehörten. Eine mit Rom unierte Kirche sollte Weißrussen und Ukrainer katholisch machen - wenn auch unter Beibehaltung des orthodoxen Ritus. Die Moskauer Großfürsten und Zaren, lange unter tatarischer Zwangsherrschaft westlichen Einflüssen entzogen, erhoben den Anspruch, ihre Glaubens- und Stammesbrüder zu befreien und die alte, in den Mongolenstürmen zerfallene Kiewer Rus wieder zu vereinen - ein wesentlicher Movens für die polnischen Teilungen, für den Zerfall der polnisch-litauischen Adelsrepublik.
Die Herrschaftsmethoden der russischen Zaren waren freilich auch nicht immer nach dem Geschmack der Befreiten. So war der Gebrauch des Weißrussischen im Zarenreich lange untersagt, die Bevölkerung einer starken Russifizierungspolitik ausgesetzt. Zwar gab es im von Nationalbewegungen geprägten 19. Jahrhundert auch Widerstand gegen diese Politik - allerdings weniger Widerstand als in der Ukraine, der mit dem Kosakenmyhos und dem kurzlebigen Kosakenstaat ein stärkerer, auch romantisch geprägter Kristallisationspunkt für eine Nationalbewegung zur Verfügung stand. Das Belarus des Alexander Lukaschenko ist vor allem von seinem Sowjeterbe und dem bescheidenen Wohlstand, den man sich in dieser Zeit aufgebaut hat, geprägt.
Marschmusik bei Zug aus Moskau
Das zeigt sich in Weißrussland, der verspäteten Nation, bis heute. Die Bindung an Moskau ist stärker als in der Ukraine. Als der russische Präsident Boris Jelzin 1991 aus Russland, Belarus und der Ukraine eine Art slawische Union gründen wollte, legte sich Minsk, wo man wie die Jungfrau zum Kind zur Unabhängigkeit kam, nicht quer. Es war der ukrainische Präsident Leonid Krawtschuk, der sein Veto einlegte und so das Projekt platzen ließ. Mitte der 1990er Jahre vereinbarten Russland und Weißrussland die Schaffung eines Unionsstaates - der freilich nicht recht vom Fleck kommt.
Die Bindung an Russland offenbart sich auch im täglichen Leben. Wenigstens vor kurzer Zeit noch wurde am Hauptbahnhof in Minsk, wenn ein Zug aus Moskau oder Sankt Petersburg ankam, zur Begrüßung extra Marschmusik gespielt. Die Straßen in Minsk sind zwar auf Weißrussisch angeschrieben. Ein weißrussischer Stadtplan - also ein Plan, auf dem die Straßen so verzeichnet sind, wie sie an den Häusern stehen - war in der Zeit, als man noch Stadtpläne benutzte, dennoch nicht zu bekommen. Und das nicht, weil das verboten wäre. Sondern weil es schlicht kein Interesse dafür gab. Die Umgangssprache in Minsk ist Russisch. Das Weißrussische erfährt zwar in den letzten Jahren eine Renaissance, ist modern geworden und liegt im Trend. Es bleibt aber in der zweiten Reihe. Viele Weißrussen können die Landessprache nicht sprechen und manchmal auch nicht verstehen.
Militärstrategisch wichtig
Fast 30 Jahre Unabhängigkeit haben in Belarus dennoch den Willen zur Unabhängigkeit bestärkt und das Nationalgefühl geweckt. Einen Anschluss an Russland will kaum jemand. Man hat nach auch genug von imperialen Abenteuern und träumt eher von einer ruhigen Entwicklung wie in Polen oder Litauen. Das gewissermaßen subkutane Langfrist-Abdriften des engen Partnerlandes Richtung Westen bereitet Moskau Sorgen. Schon allein deshalb, weil Belarus militärstrategisch für den Kreml enorm wichtig ist, weit wichtiger als die ukrainische Krim: Weißrussland sei Russlands "wichtigster sicherheitspolitischer Verbündeter, ein Vorposten Richtung Westen und ein wichtiges Bindeglied zur Exklave Kaliningrad", sagte der Russland-Experte Alexander Dubowy von der Universität Wien am Dienstag der APA. Ein Abdriften des Landes Richtung Westen könne man in Moskau also auf keinen Fall akzeptieren.
Dennoch wäre eine militärische Intervention für Moskau ein echtes Risiko. Denn in einem solchen Fall würde man sich wohl nicht nur die Weißrussen für Jahrzehnte zum Feind machen, scharfe westliche Sanktionen zu schlucken haben und eventuell auch kämpfen müssen. Auch im eigenen Land würde eine solche Operation wohl keine Begeisterungsstürme wie im Fall der Krim auslösen. Außerdem ist Belarus ein weit einheitlicheres Land als die historisch gespaltene Ukraine, der Ost-West-Gegensatz ist schwächer - es gibt sozusagen keine Krim, interveniert Russland, müsste es das ganze Land schlucken. Der Kreml, ist Dubowy überzeugt, werde eine Intervention nur als letztes Mittel einsetzen.
"Wichtiger Partner" Russland
Dies wohl auch deshalb, weil etwa der chancenreichste Ex-Bewerber bei der Präsidentenwahl, der inhaftierte Wiktor Babariko, trotz seiner Spenden für die prowestliche Opposition kein antirussischer Nationalist ist. Er leitete die Belgasprombank, die der russischen Gasprom gehört, und wurde deshalb von Lukaschenko auch schon als Kandidat des Kremls bezeichnet. Auch der Richtung Moskau geflohene liberale Kandidat Waleri Tsepkalo hatte im Wahlkampf erklärt, als Präsident zunächst nach Moskau zu reisen.
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Am Dienstag beeilte sich dann Babarikos Wahlkampfmanagerin Maria Kolesnikowa, die letzte in Belarus verbliebene Führungsfigur des Frauentrios gegen Lukaschenko, zu versichern, dass die Opposition keinen Bruch mit Russland anstrebt. Russland sei ein wichtiger Partner. "Wir verstehen und schätzen das." Dass es regelmäßig zu Spannungen zwischen Weißrussland und Russland komme, zeige deutlich, "dass Belarus’ amtierender Präsident nicht in der Lage ist, diese Aufgabe zu bewältigen", schrieb Kolesnikowa an Alexej Wenediktow, den Chefredakteur des kremlkritischen Moskauer Radiosenders "Echo Moskwy".
Sondereinheiten Richtung Belarus?
Der Schritt Kolesnikowas könnte auch bedeuten, dass man Russland möglichst keinen Anlass für eine Intervention, auch für keine niederschwellige, gibt. Schließlich sollen sich Gerüchten zufolge am Montag bereits russische Sondereinheiten auf den Weg Richtung Belarus gemacht haben. Im russischen Staats-TV wurden ebenso wie im weißrussischen junge Männer mit Nazi-artigen Tätowierungen und genug Devisen gezeigt, die die These einer vom Westen geplanten und mittels radikaler Kräfte durchgeführten Farbrevolution in Belarus stützen sollen. Die weißrussische Opposition um Kolesnikowa und Swetlana Tichanowskaja bemüht sich daher um Mäßigung. Kolesnikowa hat sich unlängst selbst gegen EU-Sanktionen ausgesprochen und darauf verwiesen, dass das weißrussische Volk das Regime von Lukaschenko selbst loswerden muss.
Kein Vorwand für Eingreifen
Solche Töne kommen in der traditionell zerstrittenen weißrussischen Opposition nicht überall an. Wie in der Ukraine, so gibt es auch in Belarus Nationalisten. Manche forderten schon in den 1990er Jahren den Abbruch der Beziehungen zu Moskau - ein Unterfangen, das schon angesichts der engen wirtschaftlichen Bande zum Scheitern verurteilt wäre. In Tichanowskajas Koordinierungsrat, der eine friedliche Machtübergabe organisieren soll, fehlen solche Leute allerdings. Von der Regierung gab es erste Angebote, auf die Proteste einzugehen. "Wir sind offen für einen Dialog", schrieb Gesundheitsminister Wladimir Karanik dem unabhängigen Portal tut.by zufolge in einem offenen Brief.
Auch die EU steht vor dem Problem, Russland einerseits keinen Vorwand für ein Eingreifen zu geben, andererseits aber doch klar die Opposition zu unterstützen. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel forderte von Lukaschenko einen Dialog mit der Opposition ein. Russlands Präsident Wladimir Putin erklärte hingegen, jegliche Form der Einmischung in innere Angelegenheiten Weißrusslands sei inakzeptabel.