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Keine neuen Gefahren, doch Zahl der Krankheitsfälle wird weiter steigen. | Strahlung im Sperrgebiet mittlerweile weitgehend abgesunken. | Wien. "Ich war schon oft in Tschernobyl", sagt Malcolm Crick: "Das Areal ist aufgeräumt. Zwar nicht picco-bello wie in der Schweiz, aber immerhin. Und sie haben einen Aussichtsturm gebaut", berichtet der britische Physiker.
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Er erzählt von Geistersiedlungen im Umkreis des heute stillgelegten nord-ukrainischen Atomkraftwerks, deren Bewohner nach der Reaktorkatastrophe evakuiert wurden: "Schockierend ist die Stadt Prypiat, in der früher 30.000 Menschen lebten. Jetzt hausen die Tiere in den Appartements und teilen sich das Regiment mit den Pflanzen. Es ist wie in einem Katastrophenfilm."
Crick ist Leiter des wissenschaftlichen Ausschusses der Vereinten Nationen zur Untersuchung der Auswirkungen der atomaren Strahlung (Unscear), der die UNO-Mitglieder zu Strahlenschutzmaßnahmen berät. Am Montag präsentiert er in Wien
eine Bestandsaufnahme der Gesundheitsschäden aus der Reaktorkatastrophe vom 26. April 1986, der bisher schwersten Atomkatastrophe der zivilen Kernkraft-Nutzung. Die Studie im Auftrag der UNO beruht auf wissenschaftlichen Publikationen zum Thema seit 2001.
Was die Unscear-Experten herausfanden, beruhigt und schockiert zugleich. Von den 134 zum Zeitpunkt der Explosion im Atomkraftwerk beschäftigten Menschen erlitten 28 akute Strahlenschäden. Jedoch haben 115 von ihnen die Katastrophe bis heute überlebt. Unter den rund 600.000 "Liquidatoren", die über längere Zeit mit der Reinigung der Anlage und der Konstruktion des Schutzmantels beschäftigt waren, will das Komitee jedoch keinen Todesfall eindeutig auf radioaktive Strahlung zurückführen können. Ganz anders als die russische Regierung, nach deren Schätzung 25.000 Liquidatoren an den Folgen der Katastrophe starben.
Crick hält diese Zahlen für unplausibel, gleichzeitig will er aber nicht entwarnen: "Noch gibt es keine repräsentativen Vergleichsgruppen-Studien für ein erhöhtes Auftreten von etwa grauem Star oder Leukämie bei Liquidatoren. Jede Aussage, die ich dazu treffe, wäre Spekulation." Doch er betont, dass bestimme Tumore erst 30 Jahre nach einer Strahlen-Katastrophe zu wachsen beginnen: "Da kommt sicherlich noch einiges auf uns zu." Weitgehend unerforscht sei auch die Auswirkung von Radioaktivität auf Herz-Kreislauf-Erkrankungen.
Schilddrüsenkrebs
Die Höhe der Flutwelle an Gesundheitssschäden zeigt sich am Beispiel Schilddrüsenkrebs. Von 1991 bis 2005 wurden rund 6000 Fälle von Schiddrüsenkrebs in der Ukraine, Weißrussland und der Russischen Föderation registriert, die auf das Trinken von mit radioaktivem Iodin-131 verseuchter Kuhmilch zurückzuführen sind. In erster Linie sind Menschen betroffen, die 1986 zwischen 0 und 18 Jahre alt waren. "Wenn wir bedenken, dass Schilddrüsenkrebs vermehrt erst ab dem Alter von 40 Jahren auftritt, können wir damit rechnen, dass sie diese Zahl weiter steigen wird. Die wahren Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit werden sich mit zunehmendem Alter der Betroffenen zeigen", sagt der Unscear-Chef.
Mit neuen von Tschernobyl ausgehenden Gefahren rechnet er allgemein nicht. "Die Messungen haben ergeben, dass die radioaktive Strahlung in der Sperrzone im Umkreis von 30 Kilometern der Anlage weitgehend abgesunken ist. Es ist in etwa so, als ob man zum Röntgen geht", sagt Crick. Dennoch seien Pläne von lokaler Tourismusmanager, das Gebiet während der Fußball-Europameisterschaft 2012 zu einer Touristenattraktionen zu machen, bedenklich: "Es wird nichts passieren, wenn man ein Mal im Leben einen halben Tag auf dem Aussichsturm steht." Das Risiko, dass der brüchige Schutzmantel des Katastrophen-Reaktors auseinander breche, sei jedoch höher.