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Die Vertriebenen

Von Thomas Seifert aus Erbil

Politik

Im Irak gehen die Dschihadisten des "Islamischen Staates" schon lange gegen die Andersgläubigen vor: Mehr als 1,8 Millionen Menschen sind bereits geflohen. Die meisten fanden in der Kurdenregion Zuflucht.


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Erbil. Der Vormarsch der Dschihadisten des Islamischen Staats (IS), der auf Arabisch Daish genannt wird, hat die Geographie von Syrien und dem Irak verändert. Der Ansturm der Flüchtlinge hat kleine Dörfer zu Städten anschwellen lassen, wo früher nackter Boden war, reihen sich nun Zeltreihen an Zeltreihen.

In Flüchtlingslager Khanke leben laut letzter Zählung 18.426 Menschen in 3120 Zelten. Es gibt nur für drei Prozent der Kinder einen Schulplatz, in 17 Prozent der Haushalte im Camp lebt eine stillende Mutter oder eine Schwangere. Die Behörden und die internationale Staatengemeinschaft versuchen zu helfen, so gut sie können, sagt der für das Camp verantwortliche Mitarbeiter der Regierungsorganisation Development and Modification Center. Aber es fehle an so gut wie allem: 90 Prozent der Flüchtlinge im Camp sagten bei einer Erhebung, es gebe Schwierigkeiten mit der Versorgung von Lebensmitteln, 78 Prozent meinten, die Wasserversorgung sei unzureichend, 71 Prozent sahen Probleme bei der Hygiene des Lagers.

Als die IS-Dschihadisten im August 2014 ihre Offensive starteten, blieb vielen Menschen nur mehr die Flucht. Mehr als 1,8 Millionen sind im Irak bereits vor IS/Daish geflohen - unter ihnen neben Kurden und Jesiden auch 120.000 der rund 350.000 Christen im Land.

"Können nicht zurückkehren"

Einer der Vertriebenen ist Mamo Mussar Suleyman. Der studierte Ingenieur arbeitete fast sechs Jahre in Deutschland. Vor ein paar Jahren ist der Jeside Suleyman in den Irak zurückgekehrt. Er baute sich eine Existenz auf, lernte seine heutige Frau kennen. Als IS/Daish im August 2014 immer mehr in Richtung Nordirak vorstießen, wurde seine Lage schwieriger. "Alle Männer in meinem Dorf haben zu den Waffen gegriffen, wir haben gemacht, was wir konnten, aber ohne Panzer und schwere Bewaffnung hatten wir keine Chance", sagt Suleyman. Die Dorfgemeinschaft sei davongelaufen, habe sich in die Sinjar-Berge geflüchtet. "Dort mussten wir dann Tage ohne Essen und fast ohne Wasser überleben", erzählt er. Die Flucht gestaltete sich abenteuerlich: Zuerst hat er sich mit seiner Familie in den kurdisch kontrollierten Teil Syriens durchgeschlagen, von dort weiter in die Türkei und nun ist er nach dieser Odyssee mit seiner Frau und ihrem einjährigen Kleinkind im kurdischen Teil des Irak gelandet. "Ich kann nicht mehr in mein Dorf zurück. Die Gegend wird von Daish kontrolliert, dort ist es nicht sicher. Und wie sollen wir jemals wieder unseren Nachbarn vertrauen? Sie haben alles mit uns gemacht, haben unsere Frauen genommen, unsere Kinder entführt und unser Eigentum geplündert." Wie es nun weitergeht? "Die meisten Menschen wollen nach Europa, ich war selbst schon in Deutschland und würde gerne wieder zurück, habe sogar Papiere, aber ich kann doch meine Familie nicht zurücklassen. Was wir brauchen, sind Sicherheit und Schutz vor Daish. Nur eine starke Armee mit Panzern und schweren Waffen kann uns schützen." Die IS-Dschihadisten seien gnadenlos, wer nicht zum Islam übertrete, müsse um sein Leben fürchten, sagt Suleyman.

Jesiden, wie Suleyman, sind besonders gefährdet. Denn die Dschihadisten halten die Jesiden für "Teufelsanbeter", denn sie verehren einen Engel in Pfauenform: Tawusî Melek, der in der islamischen Welt oft als gefallener Engel missverstanden wird. Die Jesiden werden auch deshalb terrorisiert, weil sie in der Region keine wirklichen Verbündeten haben: Während den bedrängten Kurden in Syrien Kurden aus dem Nordirak zu Hilfe geeilt sind, den Kurden im Nordirak wiederum schlagkräftige Peschmerga-Einheiten zur Verfügung stehen und die Schiiten die größte und mächtigste Volksgruppe im Irak stellen, standen die Jesiden (ebenso wie die Christen und die Schabak) bis vor kurzem alleine da. Schließlich haben kurdische Einheiten der PYD in Syrien und Peschmerga im Nordirak zugunsten der Jesiden militärisch interveniert.

Denn die Kurden wissen, was es heißt, Flüchtling zu sein. Nach der Niederlage Saddam Husseins im Jahr 1991 - seine Armee wurde nach der Okkupation Kuwaits im Jahr 1990 von einer von den USA angeführten Allianz vernichtend geschlagen - wagten sie den Aufstand und versuchten, die Kurdengebiete aus dem Zugriff Bagdads zu befreien. Die irakische Armee schlug die Revolte nieder, rund zwei Millionen Kurden mussten damals in die Türkei und in den Iran flüchten. Später wurde eine international überwachte Flugverbotszone eingerichtet und die Kurden bauten eine autonome Region auf.

Der österreichische Europa-Abgeordnete Josef Weidenholzer (SPÖ) kehrte jüngst mit einer Delegation des Europaparlaments aus der Region zurück, wo er sich einen Überblick über die Lage verschaffte. Weidenholzer sprach mit dem Leiter des Flüchtlingscamps, redete mit Flüchtlingen. "Die Menschen leben in Zelten, durch die bei schwerem Regen das Wasser dringt. Für die meisten gibt es keine Arbeit, also sitzen die Flüchtlinge beisammen und werden immer wieder von ihren Erinnerungen eingeholt. Eine trostlose Situation", sagt Weidenholzer. "Diese Menschen sind nur hier, weil sie von den IS-Verbrechern vertrieben wurden. Diese Dschihadisten haben das hier friedliche Zusammenleben zerstört und zerstören auch das Zusammenleben in Europa, wenn man sie lässt. Die Menschen hier kämpfen auch für unsere Freiheit, daher müssen wir alles unternehmen, um ihnen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen", sagt Weidenholzer.